Benkau Jennifer
gewöhnen. Mehr noch, er lernte ihn zu lieben. Ihre Augen waren dunkel geschminkt, viel intensiver, als er es von ihr kannte, und er wunderte sich über die Reste von halbherzig entferntem Lippenstift, die sie auf seinen Lippen hinterließ.
„Ich hab bei Steffi geschlafen, daher bin ich zu spät“, sagte sie atemlos.
Das erklärte natürlich alles. In erster Linie das ungewohnt großzügig eingesetzte Make-up.
„Was möchtest du heute machen?“, fragte er.
Sie kniff die Augen zusammen und überlegte kurz. „Ich würde gerne sehen, was du normalerweise sonntags machst.“
„Ich soll dich mit auf eine Zeitreise nehmen?“ Helenas Augen wurden rund und er musste lachen. „Na, dann steig ein.“
Samuel ließ die Stadt hinter sich, fuhr viele Kilometer über gewundene, schmale Straßen in den Schwarzwald hinein. Im Radio sangen Bon Jovi einen verrückten Rocksong über ‚Captain Crash and the Beauty Queen from Mars‘. Samuel pfiff mit. Seine persönliche Beauty Queen vom Mars hauchte an die Scheibe des Autofensters und malte im Beschlag Palmen und einen Delfin, der wie eine Nacktschnecke aussah. Ihr Hund roch derweil nach Hund, und Samuel fuhr viel weiter als geplant, um an der geliehenen Unbeschwertheit noch ein paar Minuten länger festzuhalten.
Auf einem abgelegenen Parkplatz für Wanderer stellte er den Wagen ab und dicht beisammen schlenderten sie einen Bach entlang. Die ausgeschilderten Wege verließen sie rasch und arbeiteten sich über schmale Trampelpfade oder querfeldein. Er zeigte ihr die rar gewordenen Gegenden, in die sich fast nie ein Mensch verirrte; in denen die Natur noch nichts davon gehört hatte, dass das 21. Jahrhundert hereingebrochen war. Orte, die fast genau so aussahen, wie die Wälder um München, durch die er und seine Freunde damals mit Zwillen, Pfeil und Bogen gestreunt waren. Es gab Dinge, die sich nie änderten, wurden sie auch immer weniger und verloren an Details. Dafür kamen neue hinzu. Unerwartete.
Helena zog die Schuhe aus, krempelte die Hosenbeine hoch und watete, den spätherbstlichen Temperaturen trotzend, durch den Bach, ohne eine Miene zu verziehen. Samuel kletterte stattdessen eine Böschung hoch und überquerte das Bachbett in drei Meter Höhe auf einem umgestürzten Baumstamm.
„Fall da bloß nicht runter!“, rief sie und hüpfte im Wasser herum, worauf Tropfen in alle Richtungen flogen und ihr Hund kläffend die Flucht ergriff.
„Hast du Angst, ich könnte mir den Hals brechen?“
„Nein.“ Sie kicherte, unstete Blicke nach oben werfend. „Ich hab Angst, dass du dir das Knie aufschlägst. Ich kann Männer nämlich nicht leiden sehen.“
„Früher“, rief er ihr ungerührt zu, „haben wir Trainingskämpfe auf solchen Stämmen ausgefochten. Mit den Fäusten, mit Holzschwertern oder Knüppeln. Was immer wir in die Finger bekamen.“ Er imitierte einen rasanten Vorstoß mit einem imaginären Beidhänder und amüsierte sich heimlich, dass Helena die Luft anhielt. „Ich war nicht umsonst ein guter Boxer. Nichts trainiert Gleichgewicht und Standhaftigkeit so gut, wie eine ordentliche Tracht Prügel in ein paar Metern Höhe. Vor allem, wenn das darunter fließende Wasser saukalt ist.“ Durch die Baumkronen dringende Lichtstrahlen gaben die Übungspartner ab, denen er mit ein paar leichtfüßigen Sprüngen auswich.
Helena schnalzte mit der Zunge. „Du spinnst. Wenn mir das imponieren soll, dann funktioniert es nicht.“
Der Handvoll Wasser, die sie nach oben spritzte, wich er mit einer gesprungenen Drehung aus, und sie quietschte vor Schreck, was ihn erheiterte.
„Bist du noch zu retten? Hör auf da rumzuhüpfen! Komm sofort runter, du Angeber.“
Er sah nach unten, ging leicht in die Knie. „Auf dem schnellsten Weg?“
Sie schnappte erschrocken nach Luft, stammelte einen herzhaften Fluch, und Samuel musste sich mitten über dem Bach auf den Stamm setzen, da er vor Lachen ansonsten tatsächlich gefallen wäre.
Später alberten sie noch eine Weile, schwiegen, redeten und schwiegen wieder. Es war nicht die Art von Schweigen, die entstand, weil niemand die richtigen Worte fand. Helena hatte keine Probleme damit, die falschen zu sagen. Samuel liebte die Unbefangenheit, mit der sie sprach, sowie die Selbstverständlichkeit, mit der sie seinen Humor erwiderte, auch und gerade dann, wenn er morbide Züge annahm. Vielleicht war es das, was ihn vom ersten Moment, den wenigen Minuten auf der Brücke, an ihr fasziniert hatte. Ihr vorbehaltlos offenes
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