Beobachter
Letzteres lag weniger an dem ungesunden Lebenswandel als an der Tatsache, dass sie eine zutiefst unzufriedene Frau war. Frustriert. Samson hatte manchmal mit seinem Bruder darüber gesprochen. Dieser hatte ihm erklärt, dass Millie in der festen Überzeugung lebte, vom Schicksal benachteiligt zu sein, und zwar nicht, weil ihr jemals irgendetwas Tragisches zugestoßen war, sondern weil sie in der Summe unzähliger kleiner täglicher Ungerechtigkeiten und Enttäuschungen die gesamte große Benachteiligung ihrer Person sah.
Wenn Gavin, ihr Mann, sie fragte, was es denn genau sei, was ihr so sehr das Leben vergälle, dann antwortete sie immer: »Alles. Einfach alles zusammen.«
Unglücklicherweise wusste Samson, dass er selbst in diesem Alles zusammen keine kleine Rolle spielte.
»Dachte ich mir doch, dass ich dich gehört habe«, sagte Millie. Sie war noch nicht angezogen. Wenn sie erst später arbeiten musste, schlüpfte sie morgens rasch in einen Jogginganzug und machte ihrem Mann das Frühstück, ehe dieser zu seiner Frühschicht aufbrach. Gavin arbeitete als Busfahrer. Oft musste er schon um fünf Uhr aus dem Bett. Millie kochte ihm dann Kaffee, briet Speck mit Rühreiern, schob Weißbrot in den Toaster und schmierte die Sandwiches, die er mit zur Arbeit nahm. Sie konnte eine recht angenehme Fürsorglichkeit an den Tag legen, aber Samson war überzeugt, dass sie dabei nicht von echter Warmherzigkeit getrieben wurde. Gavin zahlte für das üppige Frühstück nämlich einen hohen Preis: Er musste sich die ganze Zeit über ihr Nörgeln und Jammern und ihre Vorwürfe anhören, und Samson hatte schon manchmal überlegt, ob sein Bruder sich nicht viel lieber allein mit einer Tasse Kaffee und einem selbstgestrichenen Marmeladentoast zu dieser frühen Stunde in die Küche setzen und friedlich seine Zeitung lesen würde.
»Ich bin gleich weg«, sagte Samson und schlüpfte in seinen Anorak.
»Hat sich etwas wegen einer Arbeit ergeben?«, fragte Millie.
»Noch nicht.«
»Bemühst du dich überhaupt?«
»Natürlich. Aber die Zeiten sind schwierig.«
»Du hast diese Woche noch nichts zum Haushaltsgeld dazugegeben. Ich muss schließlich einkaufen. Und beim Essen bist du dann weniger zurückhaltend.«
Samson kramte seinen Geldbeutel aus der Hosentasche, zog einen Schein hervor. »Reicht das erst einmal?«
»Viel ist es nicht«, sagte Millie, nahm aber natürlich das Geld. »Besser als nichts.«
Was will sie eigentlich?, fragte sich Samson. Nur wegen des Geldes hat sie mich nicht abgefangen.
Er sah sie fragend an.
Millie sagte jedoch nur: »Gavin kommt heute Mittag. Wir essen um zwei. Ich habe erst nachmittags Dienst.«
»Ich komme nicht zum Essen«, sagte Samson.
Sie zuckte mit den Schultern. »Musst du wissen.«
Da ganz offensichtlich nichts weiter anstand, nickte er ihr kurz zu, dann öffnete er die Haustür und trat hinaus in den kalten Tag.
Eine Begegnung mit Millie machte ihn immer nervös, unsicher und beklommen. Er bekam schlecht Luft in ihrer Gegenwart. Hier draußen ging es ihm sogleich besser.
Er hatte einmal ein Gespräch zwischen Millie und seinem Bruder angehört, und seitdem wusste er, dass Millie nichts so ersehnte wie seinen Auszug aus dem gemeinsamen Haus. Nicht, dass ihm das vorher nicht klar gewesen wäre, Millie hatte nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie ihn als Störenfried empfand, aber es fühlte sich noch einmal anders an, wenn man sie so unverblümt darüber reden hörte. Zudem hatte er nicht gewusst, dass sie auch seinen Bruder deswegen massiv unter Druck setzte.
»Ich wollte mit dir in einer Ehe leben, in einer ganz normalen Ehe«, hatte sie gezischt. »Und was ist das hier jetzt? Eine Art Wohngemeinschaft?«
»So kannst du das nicht bezeichnen«, hatte Gavin geantwortet, unbehaglich und mit der Erschöpfung eines Menschen, der ein unerquickliches Thema schon viel zu oft hat abhandeln müssen. »Er ist mein Bruder. Er ist ja nicht irgendein Untermieter!«
»Wäre er das bloß! Dann würden wir wenigstens noch Miete bekommen. Aber so …«
»Es ist auch seinHaus, Millie. Wir haben es beide von unseren Eltern geerbt. Er hat dasselbe Recht, hier zu wohnen, wie wir.«
»Das ist keine Frage des Rechts!«
»Sondern?«
»Des Taktgefühls. Des Anstands. Ich meine, wir beide, wir sind verheiratet. Wir werden vielleicht irgendwann einmal Kinder haben. Eine richtige Familie sein. Er ist allein. Er ist das fünfte Rad am Wagen. Jeder andere Mensch würde doch merken, dass er stört,
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