Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Beraubt: Roman

Beraubt: Roman

Titel: Beraubt: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Womersley Chris , Thomas Gunkel
Vom Netzwerk:
bestimmt viel zu tun. Schließlich ist er Arzt. Ein Mann der Wissenschaft.«
    Als Quinn keine Antwort gab, senkte Mrs. Cranshaw die Stimme. »Sie können glauben, was Sie wollen«, krächzte sie und starrte ihm direkt in die Augen. »Aber diese guten Leute trauern. Sie sind darauf angewiesen, etwas von ihren Toten zu hören. Ihren Brüdern und Ehemännern. Ihren Schwestern. Von ihnen gibt es Tausende, wissen Sie? Tausende. Es lindert ihren Schmerz. Und außerdem gehört es zu den Kriegsanstrengungen; wir müssen uns an ihre Mörder erinnern, damit sie zur Rechenschaft gezogen werden können. Wenn wir diese abscheulichen Teutonen vergessen, dann sind unsere Jungs vergeblich gestorben. Sehen Sie die Frau da drüben mit dem hellen Halstuch über ihrer Trauerkleidung? Sehen Sie sie? Mrs. Henry Dance. Drei von vier Söhnen gefallen.« Sie hielt drei knorrige Finger hoch. »Drei von vier. Haben Sie gemerkt, wie sie Sie und Ihren grinsenden Freund betrachtet?«
    Quinn schüttelte den Kopf. Die Frau war ihm bis zu diesem Augenblick tatsächlich nicht aufgefallen.
    Mrs. Cranshaw zeigte ein seltsames Triumphgehabe. »Nun, sie hasst Sie, weil Sie am Leben sind und ihre Söhne in einem Massengrab liegen. Ausgerechnet im verfluchten Frankreich. Kalt und allein. Mausetot. Was würden Sie ihr sagen? Was würden Sie so einer Frau sagen, hm? Was würden Sie ihrem Mann sagen?«
    Die betreffende Frau saß in einem grünen Sessel. Ihre schmalen, rastlosen Finger kneteten auf ihrem Schoß ein Paar schwarze Handschuhe, wie um sie zu erdrosseln. Ihr Mann stand neben ihr, und beide hatten einen bestürzten, schwermütigen Gesichtsausdruck, als hätten sie sich so oft gegen schlechte Nachrichten wappnen müssen, dass ihre Miene für immer so eingefroren war.
    »Sie haben jegliches Mitleid satt«, fuhr Mrs. Cranshaw fort. »All die schönen Worte und das Zeitungsgeschwätz von Ehre, Tapferkeit und Aufopferung. Sie brauchen ein Zeichen von ihren Söhnen. Wollen Sie ihnen das missgönnen? Wo sollen diese Leute hingehen? In die Kirche?« Mit diesen Worten ließ sie seinen Arm los, als schaffe sie sich ein undankbares Kind vom Hals.
    Quinn fühlte sich gedemütigt und wollte sich schon verabschieden, doch plötzlich legte sich eine warme Stille über die Versammlung, und die drei Mädchen kamen mit gesenkten Köpfen herein. Sie nahmen an einem langen Tisch Platz, auf dem vor jedem von ihnen eine Papierrolle lag. Die Mädchen ähnelten sich, abgesehen davon, dass zwei blond waren, während die Letzte, die Hübscheste, rostrotes Haar hatte. Wieder ließ Quinn den Blick durch den Raum schweifen, in der Hoffnung, gehen zu können, doch in diesem Augenblick hatte eine Bedienstete die Tür geschlossen, und er saß in der Falle.
    Quinn hörte hinter sich ein leises Knacken. Er sprang auf und fingerte an seinem Revolver herum. Er blickte in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Es klang, als würde jemand außerhalb des Lichtscheins des Feuers durch die Dunkelheit tappen. Quinn zielte und entsicherte die Waffe. »Wer ist da?«, zischte er. »Zeig dich.«
    Er neigte den Kopf zur Seite, um mit seinem rechten Ohr – das nicht so stark geschädigt war wie das andere – etwas wahrnehmen zu können, doch er hörte nichts mehr. Er blieb, wo er war, atmete bloß. Seine verfluchten Ohren waren einfach nur nasse Schwämme. Wieder drehte er den Kopf in alle möglichen Richtungen und bemühte sich, etwas zu hören. Doch da war nur das prasselnde Knistern des nahen Feuers.
    Zu seiner Rechten sah er im Flackern der Flammen irgendwas in einem niedrigen Gebüsch. Es war mehrere Schritte entfernt, in der Dunkelheit nicht klar zu erkennen. Er starrte hinüber, bis er funkelndes Silber oder Messing sah. Er erstarrte. Ein Stück Stoff. Ein zerrissenes Stück Stoff. Jetzt ein Knopf. Zwei Knöpfe. Eine Uniform, anscheinend eine englische. Quinn blinzelte und starrte weiter hinüber. Eine Hand, an keinem Körper befestigt, das Handgelenk ein blutiges Gewirr aus langen, dünnen Adern und Knorpel, da, wo es vom Unterarm abgerissen war, ganz schwarz. Auf dem Boden ein schmutziger Stiefel.
    Plötzlich knackte hinter ihm ein Zweig. Ohne nachzudenken, wirbelte er herum und feuerte den Revolver ab, wie immer überrascht vom jähen Rückschlag der Waffe. Der blaue Rauch des Revolvers hing in der Nachtluft. Der Geruch von Schießpulver. Quinn stand reglos da. Nichts. Als er sich nach einer Weile wieder hinsetzen wollte, überzeugt, dass er sich das Ganze nur eingebildet hatte,

Weitere Kostenlose Bücher