Beraubt: Roman
hörte er, wie in einiger Entfernung jemand durchs Unterholz stapfte und sich, allmählich leiser werdend, über den Hügelkamm zurückzog. Quinn fluchte. Konnte es sein, dass der Mörder seiner Schwester bereits von seiner Rückkehr wusste und ihn umzubringen versuchte? Sein Herz pochte heftig. Er kontrollierte seinen Revolver. Dann wartete er und betete.
ZWEITER TEIL
Das
Mädchen
8 Am nächsten Morgen schlug Quinn nach unruhigem Schlaf noch vor Tagesanbruch die Augen auf. Es herrschte ein fahles, trübes Licht. Die Luft war frisch und kalt. Er lag auf der Seite unter seinem Regenmantel, die Hände zwischen die Schenkel geklemmt, um sie warm zu halten.
Das Feuer war nur noch ein rauchender Haufen grauer Holzreste. Erschrocken blickte er um sich. Auf der anderen Seite des Feuers kauerte ein schlaksiges blondes Mädchen, vielleicht zehn oder elf Jahre alt, das ihn mit unverhohlenem Interesse betrachtete. Quinn setzte sich auf und wollte schon den Revolver ziehen, doch das Mädchen rührte sich nicht. Sie schien allein zu sein.
»Wer bist du?«, fragte er.
Das Mädchen schniefte und wischte sich mit der Hand die Nase ab. Sie trug ein zerlumptes Kleid, das vielleicht einmal richtig blau gewesen war, jetzt aber die Farbe eines verblassten Blutergusses angenommen hatte. Eine rosafarbene Strickjacke, keine Schuhe, die Zehen saßen wie kleine Muscheln an ihren Füßen. Sie hatte ein spitzes Kinn, die Zähne wie Schuhnägel in den Gaumen gehämmert.
Quinns Mund war vom Schlaf noch ganz klebrig. Erde krümelte aus seinem Gesicht. Vom Liegen auf dem unebenen Boden tat ihm der Hals weh. Er strich sich durchs Haar. »Wer bist du? Bist du schon lange da und beobachtest mich? Bist du allein?«
Das Mädchen schien gar nicht zu bemerken, dass er gesprochen hatte. Ihre Augen waren nicht nur dunkelbraun wie die Flügel eines Nachtfalters, sondern flatterten auch ganz leicht – selbst wenn sie, wie jetzt, geöffnet waren –, als wollten sie jeden Moment losfliegen. Sie starrte die umstehenden Bäume an, als horchte sie, was sie sagten, und kratzte sich dabei träge am Fuß. Vielleicht war sie nicht ganz richtig im Kopf. Noch ein Einfaltspinsel, wie dieser Edward Fitch.
Keiner von beiden sagte ein Wort. Sie beunruhigte Quinn. Er wischte seine Kleidung ab, warf trockene Blätter ins Feuer, um es wieder in Gang zu bringen, und blies in die schwelende Glut. Er war hungrig, auch wenn das nichts Neues war: Er hatte jahrelang Hunger gelitten.
Das Mädchen betrachtete ihn mit ihren dunklen Augen. »Was machst du hier oben?«, fragte sie schließlich.
»Dasselbe könnte ich dich fragen.«
Sie spitzte die Lippen und dachte nach. »Nur zu.«
»Was?«
»Frag mich doch. Was ich hier oben mache.«
»Das wäre idiotisch.«
»Nicht, wenn du’s wirklich wissen willst.«
Er legte einen Zweig an sein Knie, brach ihn durch und warf die beiden Hälften in die Glut. »Um ehrlich zu sein, eigentlich ist es mir egal.«
Die Blätter hatten Feuer gefangen, und jetzt knisterten und glühten die größeren Holzstücke. Diese begrenzte Gewalt über ein so gefährliches Element bereitete ihm eine unerklärliche Freude. Er blies wieder auf die Blätter und warf eine weitere Handvoll Farn in die Flammen. Das Mädchen sah ihm zu wie jemand, der weiß, wie man diese Aufgabe besser erledigen kann, biss sich aber auf die Zunge. Das Feuer brannte jetzt richtig. Er setzte sich in die Hocke und beschloss, ihr ihren Willen zu lassen. »Also gut. Was machst du ganz allein schon so früh hier oben?«
»Das darf ich dir nicht sagen.«
»Warum nicht?«
»Weil es ein Geheimnis ist.«
Quinn lächelte widerwillig und hielt sich dann die Hand vor den Mund. Obwohl die Narbe nur seine linke Kinnhälfte verunstaltete, sah bei manchem Mienenspiel sein gesamtes Gesicht ziemlich verkniffen aus. Er wusste, dass sein Lächeln inzwischen schief und ein bisschen unheimlich war, als würde sich die eine Hälfte von ihm über einen Witz amüsieren, und die andere wäre davon völlig unbeeindruckt. Er stand auf und zog seinen Mantel an.
»Was ist mit deinem Gesicht passiert?«
Quinn errötete und scharrte am Rand des Feuers. »Der Krieg. Ich wurde verwundet.«
»Ich bin immer hier oben. Ich wohne in diesen Hügeln.«
Quinn zweifelte an ihren prahlerischen Worten, nickte aber als Antwort. Er hatte diese Gegend als Junge durchstreift und wusste, dass es dort außer Felsen und Büschen, dem dunklen Gewirr der Bäume kaum etwas gab. Jetzt, wo die Bergleute weg waren,
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