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Beraubt: Roman

Beraubt: Roman

Titel: Beraubt: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Womersley Chris , Thomas Gunkel
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Dich. Dein Bruder ist nach Queensland gezogen. Meine Eltern. Der gute Robert kommt manchmal vorbei, aber er ist mit seiner Arbeit beschäftigt. So viele gute Menschen sind im Krieg umgekommen. Dein Vater ist außer Rand und Band. Er hat angefangen zu trinken und gerät bei Sully in Prügeleien. Wenn er dich findet, bringt er dich mit Sicherheit um. Das hat er mir hundertmal erzählt. Robert auch. Da lassen sie sich nicht umstimmen. Dein Vater ist nicht mehr der Mann, den ich geheiratet habe – ich meine, er hatte schon immer seinen eigenen Kopf, aber seit damals geht er nicht mehr in die Kirche, und ich liege hier im Bett und sterbe. Sie nennen es Grippe, aber es ist bestimmt etwas Ernsteres. Die Leute reden von anderen, schlimmeren Sachen. Manche sagen, es ist die Pest. Hier, im zwanzigsten Jahrhundert, kannst du dir das vorstellen, Quinn?«
    Die Wärme im Zimmer war bedrückend, säugetierhaft. Quinn trat an den Vorhang und zog ihn einen Spaltbreit auf, um hinauszuspähen. Ein Streifen Tageslicht drang in das schummrige Zimmer.
    »Weißt du noch, wie Apoll den Griechen die Pest schickte, weil sie Chryseis entführt hatten? Weißt du noch, wie ich dir das vorgelesen habe, Quinn? Die Ilias? Als du noch klein warst? Die Geschichten, die ich dir … und den anderen vorgelesen habe?«
    Sie leckte sich die Lippen. »Wie du weißt, habe ich nach dem Tod meiner Eltern die Bibliothek meines Vaters geerbt. Er war ein unersättlicher Leser, ließ sich Bücher, Zeitschriften und so was aus London schicken. Das war direkt nach meiner Heirat, als Robert nach England gegangen ist. Dein Vater und ich sind nach Bathurst gezogen, und ich war furchtbar einsam. Und ich erinnere mich, wie ich aufs Geratewohl ein Buch aus einer der Kisten nahm und zu lesen anfing, und ehe ich’s mich versah, war es Abend geworden und ich hatte schon seit Stunden nicht mehr geweint.«
    Mary trank noch einen Schluck Wasser. »Tausendundeine Nacht«, sagte sie genüsslich. »Noch heute erinnere ich mich an die Messingstadt, die tote Königin mit den Quecksilberaugen. Fliegende Teppiche. Ich hab euch die Geschichten vorgelesen. Es war ein altes Buch, mit lila-goldenen Bildern. Meine Güte. Mit Dschinns, bärtigen Männern und riesigen Adlern, einem Magnetberg, der die Nägel aus dem Rumpf eines Schiffes sog. Diese Geschichten waren besser als Träume. Sie entzückten mich, Quinn. Das hatte nicht mal die Bibel geschafft. Dein Vater war ziemlich bestürzt, und dass man sich überall das Ammenmärchen erzählte, wer alle Geschichten zu Ende läse, müsse sterben, machte es auch nicht gerade besser. Er fand es unnormal, dass eine Frau so viel las. Ich glaube, dass diese Bücherkisten – na ja, natürlich haben sie mir nicht das Leben gerettet, aber es fehlte nicht viel. Meiner Meinung nach ist eine gute Geschichte wie eine Arznei.«
    Seine Mutter war lebhafter geworden, doch jetzt schloss sie die Augen, als wäre sie von der Anstrengung beim Reden erschöpft. Quinn fuhr mit der Hand über die unebene Narbe an seinem Mund. Als er sich anders hinsetzte, quietschte das Bett unter ihm.
    »Und erinnerst du dich noch an die anderen Geschichten, die ich dir erzählt habe?«, fragte sie.
    Natürlich. Seine Mutter war berühmt für ihre Erzählkunst. In Winternächten hatten sie sich zu fünft vor dem Kamin versammelt – Nathaniel an seiner Pfeife saugend, William mit vor den Knien verschränkten Armen, Sarah an Quinns Schulter gelehnt –, während die Stimme ihrer Mutter in schrillem oder brummendem Tonfall, der sich bei jeder Figur änderte, durch die Dunkelheit wirbelte. Sie erzählte ihnen von Tom, dem Schornsteinfeger, und seiner Begegnung mit den Wasserbabys, von Peter Hase, von Gullivers Reisen ins Land der wilden, furchterregenden Yahoos. Dazu brauchte sie nicht mal ein Buch. Wenn man sie bat, etwas aus dem Ärmel zu schütteln, konnte sie aus allem, was sie im Lauf der Jahre gehört hatte, eine Geschichte zusammenbasteln und fügte sogar noch ein paar eigene Einfälle hinzu: ein Volk von Winzlingen, die im Garten auf alten Teeblättern wohnten, ein Insekt mit dem Gesicht eines Hundes. Aus ihrem Mund klangen selbst die Moralverse aus dem Boy’s Own Paper spannend.
    »Ach, wie habe ich meine Kinder vermisst«, sagte sie. »In meinem Innern ist eine Höhle. Dort habe ich mich oft hineingewagt, um nach euch zu suchen, aber sie war immer leer. Ich würde dich gern noch mehr fragen, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich es wirklich wissen will. Ich habe mich

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