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Beraubt: Roman

Beraubt: Roman

Titel: Beraubt: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Womersley Chris , Thomas Gunkel
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gesträubt, zu viel über jenen Tag zu erfahren. Schlimm genug, dass es passiert ist. Mehr als schlimm. Ich habe oft in dem alten Zimmer gesessen, das ihr euch geteilt habt, manchmal den ganzen Tag lang. Dein Bruder konnte nach allem nicht mehr dort schlafen und ging sowieso bald darauf fort. Er schlief in der Diele oder auf der Veranda, bevor er in den Norden zog. Ihr seid alle gegangen, aber das Zimmer blieb unverändert.
    Kannst du dich noch an Sarahs kleine Zigarrenkiste erinnern, in der sie alles Mögliche gesammelt hat? Ihre Glücksbringer? Sie hat eine Feder darin aufbewahrt, und es gab eine Zeit – du hältst mich bestimmt für verrückt –, da hab ich diese Feder mit der rechten Hand an meine Stirn gedrückt und gebetet. Später bin ich zu der seltsamen Überzeugung gelangt, dass sie zu mir oder ich zu ihr zurückkehren könnte, wenn ich dazu ein paar Verse aus einem Byron-Gedicht spräche. Dass ihr alle zurückkehren würdet, weil erst nach jenem Tag so viel schiefging. Ihr … ihr Tod war der Ausgangspunkt von allem.«
    Mary hielt wieder inne. »Dasselbe habe ich mit deinen Zigarettenkarten gemacht, mit Williams Soldaten. Beschwörungen waren das wohl. Wahrscheinlich Gotteslästerung. Dein Vater mag es nicht, dass ich euer Zimmer betrete. Hält mich für rührselig. Vielleicht hat er recht, aber jetzt überlässt er mich mir selbst. Er hat fast nie über ihren Tod gesprochen. Hat gesagt, er will die Leute nicht mit unserem Schmerz anstecken. Anstecken, was für ein Wort! Sterben ist das eine, aber auf diese Art ist es etwas ganz anderes. Mord. Niemand wusste, was er sagen sollte. Nicht mal der Pfarrer. Und jetzt der Krieg, die Seuche. Niemand weiß mehr, was er zum anderen sagen soll …« Ihre Stimme verhallte.
    Bald darauf schlief sie ein. Er betrachtete sie lange. Sie schnappte nach Luft, zuckte, flüsterte Worte, die er nicht verstand. Als er ihr das Gesicht und den Hals mit einem feuchten Lappen kühlte, kam ihm eine Idee, die sich allmählich in eine Überzeugung verwandelte. Sich um seine Mutter zu kümmern, ihr ein bisschen Frieden zu schenken, ihr wenigstens zu verdeutlichen, dass keins ihrer Kinder ein Mörder war: Vielleicht war er deshalb hergerufen worden? Derart ermutigt, küsste er ihre glühende Wange und kehrte zu seinem Lagerplatz zurück.
    7 In jener Nacht kuschelte sich Quinn in die Mulde, die seine Schultern in den Kiefernnadeln geformt hatten, und starrte in den dunklen Himmel hinauf. Der Mond kam in Sicht. Der Wald redete in seiner geheimen Sprache, und wenn Quinn den Kopf drehte und das Ohr auf den Boden drückte, glaubte er, die Millionen Toten in ihren ungekennzeichneten Massengräbern auf der anderen Seite der Welt säuseln zu hören. Sarah hatte immer behauptet, die Sprache der Tiere und Bäume, das Knurren der Beutelratten und Wallabys zu verstehen. Aber was war mit den Toten?
    Im Vorjahr hatte er, auf Urlaub in London, mit seinem Freund Fletcher Wakefield, dessen Verlobte in Adelaide an Tuberkulose gestorben war, eine berühmte Spiritistin aufgesucht. Fletcher grinste viel, war einer dieser Burschen, die man immer als »unerschütterlich« bezeichnete. In ihrem Schlafsaal in Abbey Wood hatte er oft mit Quinn über seine verstorbene Liebste und ihre geplante Hochzeit gesprochen. Obwohl sie immer wieder abschweiften, endete das Gespräch stets damit, dass Fletcher bedauerte, Doris nicht gesagt zu haben, wie sehr er sie liebe und dass sie ohne Zweifel – ohne den allergeringsten Zweifel – die schönste Frau sei, die er je gesehen habe. Viel zu gut für mich , lautete gewöhnlich sein selbstironischer Nachsatz. Viel zu gut .
    Quinn hatte eigentlich keine Lust gehabt, seinen Freund zu begleiten, doch Fletcher, der schon an zahlreichen Séancen teilgenommen hatte, versicherte ihm, dass die Geister nur zu jemandem sprächen, der ein offenes Herz habe und dem Medium eine spezielle Frage stelle. Die Geister befassten sich von ihrem Wesen her nur mit Menschen, die sich für sie interessierten. Das sei vielleicht tröstlich.
    In London wimmelte es damals von solchen Veranstaltungen, und es fehlte nicht an Menschen, die zu verstorbenen Angehörigen in Kontakt treten wollten. Es gab Frauen, die Geister heraufbeschworen, die an die Unterseite eines Tisches klopften, Männer, die in samtdunklen Räumen über den Schultern der Teilnehmer schwebende geisterhafte Gesichter fotografierten, ein Medium, das mit der Stimme eines schon lange toten Indianerhäuptlings sprach. Quinn hatte sogar

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