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Beraubt: Roman

Beraubt: Roman

Titel: Beraubt: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Womersley Chris , Thomas Gunkel
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von einer jungen Frau gehört, die aus ihren Ohren die gallertartige Masse hervorziehen konnte, aus der Geister bestehen. Quinn hatte das Gefühl, als wimmelte die Welt plötzlich so von Trauernden, dass man in Londons Straßen nicht nur dem Gedränge der Anwesenden und Lebenden ausgesetzt war, sondern auch ihre kollektive Sehnsucht nach Angehörigen spürte, die im Weltkrieg ums Leben gekommen waren.
    Zusammen mit acht anderen betraten Quinn und Fletcher den holzgetäfelten Salon des Hauses einer gewissen Mrs. Alice Cranshaw in Marylebone, deren Drillingstöchter angeblich die Fähigkeit besaßen, die Stimmen von Verstorbenen zu hören und ihre Botschaften den noch Lebenden mitzuteilen.
    In Mrs. Cranshaws Salon war es warm und dunkel. Sie selbst war eine füllige Frau mittleren Alters und rauchte, während sie einen gebieterischen Blick auf die kleine Schar warf, Zigaretten, die in einer langen Spitze steckten. Fletcher begrüßte einen Bekannten und ließ Quinn allein. Quinn fand seine Uniform auffällig und bemühte sich, unbemerkt zu bleiben, doch Mrs. Cranshaw winkte ihn zu sich und zog ihn so nah heran, dass er die feuchte Luft ihres Atems an seiner Wange spürte.
    »Und wegen wem sind Sie hergekommen, mein Lieber?«
    »Wie bitte?«
    Die Frau machte eine seltsame Mundbewegung, als würde sie auf ihrer eigenen Zunge kauen, und ließ die glänzende Zigarettenspitze zwischen die Lippen gleiten. Ihr Haar stand widerspenstig vom Kopf ab. Quinn sah sich nach Fletcher um, doch der war immer noch in sein Gespräch vertieft. Mrs. Cranshaw ergriff seinen Arm. In ihren Mundwinkeln klebten Speicheltröpfchen. »Keine Sorge, mein Junge. Ich fresse Sie schon nicht«, sagte sie, obwohl sie an ihrer Zigarettenspitze aus Jade knabberte, als wäre genau das ihre Absicht.
    Quinn hätte ihr gern den Arm entzogen, spürte aber, dass es unhöflich wäre. Sie machte ihm Angst, dessen war sie sich zweifellos bewusst, und vermutlich gefiel es ihr.
    »Wegen niemandem, Ma’am«, sagte er schließlich und deutete auf Fletcher. »Ich bin mit meinem Freund da. Er würde gern, ähm, mit seiner verstorbenen Verlobten sprechen.«
    Mrs. Cranshaw runzelte die Stirn. »Oh, aber ich bin mir sicher, dass da jemand ist. In dieser dunklen Zeit hat jeder von uns irgendwen verloren, der ihm nahestand. Einen Freund? Einen Bruder, der von Ihnen gegangen ist? Jemanden im Krieg?«
    Quinn blickte wieder zu Fletcher hinüber.
    »Haben Sie Angst vor dem Tod?«, fragte Mrs. Cranshaw mit einem Hauch von Spott.
    Quinn dachte darüber nach. »Nein.«
    »Aber Sie glauben nicht an das, was wir hier tun, oder?«
    »Es steht mir nicht zu, mich dazu zu äußern.«
    »Sehr diplomatisch, aber mir können Sie es ruhig sagen. Es macht mir nichts aus. Sie glauben nicht an die Geisterwelt?«
    »Eigentlich nicht, Ma’am.«
    »Aber Sie wirken ängstlich. Haben Sie Angst, mein Junge?«
    »Ich will nicht hören, was die Toten zu sagen haben könnten. Warum sollten sie überhaupt zurückkommen?«
    Mrs. Cranshaw seufzte. »Die Geister sind manchmal – wie soll ich mich ausdrücken? – unruhig. Rastlos. Der Tod ist nicht immer für jeden das Ende von allem. Oft gibt es unerledigte Angelegenheiten, besonders für diejenigen, die jäh und gewaltsam ums Leben kamen – wie im Krieg. Manchmal sind die Toten in einer schrecklichen Zwischenwelt gefangen, bis sie den Zurückgelassenen etwas sagen können. Ja, manchmal sind die Lebenden selbst gefangen, bis sie erfahren, was die Toten ihnen erzählen könnten. Es gibt Dinge, die nicht ungesagt bleiben können. Aber wenn Sie an das Ganze nicht glauben, dann brauchen Sie auch keine Angst zu haben, oder?«
    Quinn stellte fest, dass er diese Frau verachtete, und, was noch schlimmer war, er hielt sie für eine Betrügerin, die wehrlose Familien ausplünderte. Es ging das Gerücht, dass sie die Mädchen – die vermutlich gar nicht ihre Töchter waren – gegen deren Willen festhielt. Jeder wusste, dass die Bibel es untersagte, mit den Toten zu reden. Er versuchte ihr den Arm zu entziehen, doch das bewirkte bloß, dass sie noch fester zupackte.
    »Wissen Sie, wer vor ein paar Wochen hier war? Doyle. Da staunen Sie, was? Sir Arthur. Fragen Sie das Dienstmädchen, wenn Sie wollen. Oder Mrs. Beecroft mit dem weißen Halstuch. Sie war auch dabei. Er wollte etwas von seinem Sohn oder seiner Frau hören. Meine Tochter Lizzie konnte ihm helfen. Er war unglaublich dankbar. Ich bin erstaunt, dass er heute Nachmittag nicht da ist, aber er hat

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