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Beraubt: Roman

Beraubt: Roman

Titel: Beraubt: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Womersley Chris , Thomas Gunkel
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lebte hier oben kein Mensch mehr.
    Das Mädchen leckte sich die Lippen. »Ich habe ein Haus. Ein ganzes Haus, versteckt, wo niemand es finden kann.« Sie schien sich ungeheuer zu freuen, Quinn davon erzählt zu haben, und nachdem sie ein paar Minuten nichts mehr gesagt hatte, stand sie auf, um sich gähnend zu strecken. Jetzt, wo sie aufrecht dastand, sah Quinn, dass sie klapperdürr war, nichts als Haut und Knochen. »Aber du hast meine Frage nicht beantwortet.«
    »Welche Frage?«
    »Warum bist du hier oben, obwohl dein Haus da unten steht?«
    »Woher weißt du, wo ich mal gewohnt habe?«
    Ihr Lächeln war schmallippig, als quälte sie das, was sie enthüllen wollte. »Ich weiß alles Mögliche.«
    Quinn war misstrauisch, doch das Mädchen schien harmlos zu sein. Vermutlich hatte sie Andeutungen über ihn gehört, von ihren Eltern oder beim örtlichen Tratsch. Die Leute in dieser Gegend unterhielten sich, wenn sie nichts Besseres zu tun hatten, und dachten sich manches aus, um ihre Wissenslücken aufzufüllen, so wie sich die Kartografen des Altertums ganze Kontinente zusammenfantasiert haben. Und er wusste, dass Kinder für solche Hirngespinste besonders empfänglich sind, weil ihr Verständnis der Welt sehr begrenzt ist.
    »Bist du allein?«, fragte er.
    Das Mädchen schenkte ihm keine Beachtung und zupfte sich einen Zweig aus dem Haar.
    »Ich mache dir ein Angebot. Ich sage dir, warum ich hier oben bin, wenn du mir sagst, ob jemand bei dir ist.«
    Das weckte ihr Interesse. Sie betrachtete ihn. »Du zuerst.«
    »Ich bin hier, um jemanden zu besuchen. Jemanden, dem ich helfen muss.«
    »Einen Freund?«
    »Einen Verwandten.«
    »Wen denn?«
    Er hielt inne. »Das kann ich dir nicht sagen.«
    »Das ist keine richtige Antwort.«
    »Jetzt bist du dran. Bist du mit jemand anderem hier oben?«
    »Nein.«
    Quinn war noch nicht überzeugt. War sie bei ihren Antworten so nebulös gewesen wie er? Im heraufdämmernden Morgenlicht sah das Mädchen unwirklich aus, und er rief sich die Märchen von Kriegen zwischen Riesen und Menschen ins Gedächtnis, erinnerte sich, wie die wenigen verbliebenen Kobolde das noch warme Blut der toten Schurken bekamen, damit sie Menschengestalt annehmen konnten. Und in Europa liefen nach dem Krieg Waisen durch die Dörfer, stahlen Brot und Feuerholz und belegten die Alten mit Flüchen. Obwohl das wahrscheinlich bloß Geschichten waren, dachte er, dass man solche mythischen Kinder besser auf Distanz hielt.
    »Wo sind deine Eltern?«, fragte er.
    Sie wandte den Blick ab und murmelte irgendwas.
    »Was?«
    »Mein Vater hat uns vor Jahren verlassen.«
    »Ist er in den Krieg gezogen?«
    »Nein, das war schon vor meiner Geburt. Mutter ist an der Seuche gestorben. Es geht nämlich eine Seuche um.«
    Quinn zuckte zusammen und rügte sich in Gedanken. Heutzutage war es manchmal besser, sich nicht nach der Familie anderer zu erkundigen, damit man nicht solch eine Antwort bekam. »Oh, tut mir leid. Hast du keine Geschwister? Wer kümmert sich um dich?«
    Sie kratzte sich am Arm. »Ich kann selbst auf mich aufpassen. Ich hab’s doch schon gesagt. Ich habe ein Haus. Da drüben.« Sie deutete hinter sich.
    Das Mädchen war zart und zugleich selbstbeherrscht, und auch wenn er sie einschüchternd fand, wurde das durch den seltsamen Drang gemildert, sich mit ihr anzufreunden. »Wie alt bist du?«
    »Zwölf, glaube ich.«
    »Glaubst du?«
    »Na ja. Und wie alt bist du?«
    »Ich dachte, du wüsstest so viel?«
    Sie zupfte am Ärmel ihrer Strickjacke.
    Quinn bereute seine Überheblichkeit. Ihm kam ein Gedanke. »Suchst du nach einem Schaf? Einem Lamm? Gestern habe ich auf der anderen Seite des Hügels eins gesehen. Vielleicht können wir es finden. Ich zeig dir, wo ich’s gesehen habe.«
    Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Das gehört mir nicht. Ich hab’s dir doch gesagt – ich wohne hier oben. Ich bin keine Schafhirtin.« Mit leiserer Stimme, die er kaum hören konnte, fügte sie hinzu: »Aber das war nicht gestern. Das ist schon ein paar Tage her.«
    Es dauerte einen Augenblick, bis er begriff. »Du hast mich beobachtet?«
    Sie sagte irgendwas, das er nicht verstand.
    »Was? Was hast du gesagt? Ich hab von den Geschützen einen Hörschaden. Du musst lauter sprechen.«
    »Ich hab gesagt: Es hat mir von dir erzählt.«
    Quinn grinste. Seine anfängliche Ahnung stimmte: Das Mädchen war einfältig. »Klar. Das Lamm hat es dir erzählt.«
    »Es hat auch gesagt, dass du es umarmt hast.«
    »Red keinen Unsinn. Du

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