Beraubt: Roman
musst mich beobachtet haben.«
»Stimmt nicht. Das Lamm hat es mir erzählt.«
Er blieb skeptisch. »Du kannst mit Schafen reden?«
Sie machte einen Schmollmund. »Nein. Ich kann sie bloß verstehen.«
»Und wie machst du das?«
»Zuhören. Man muss ihnen einfach zuhören. Ich hab’s dir schon gesagt. Ich weiß ziemlich viel. Über den Wind und die Sterne, über das, was in Flüssen vor sich geht.« Das Mädchen zuckte schlaff mit den Schultern.
»Und was hat dir das Lamm sonst noch erzählt?«
Sie strich sich ein Haarbüschel aus dem Gesicht und zog einen brennenden Zweig aus dem Feuer. Sie wedelte damit, bis die winzige Flamme erloschen war, und beobachtete dann, wie der Rauchfaden von dem glühenden Ende aufstieg. Ihre Zungenspitze schlängelte sich herausfordernd zwischen ihren Lippen. »Es hat mir erzählt, was du ihm gesagt hast.«
Quinn zog seine Tabaksdose heraus und drehte sich eine Zigarette. Seine Finger zitterten. Der Tabak war so bröckelig wie Erde und krümelte ständig aus dem dünnen Papier.
»Und dass du geweint hast«, fügte das Mädchen hinzu.
Quinn errötete und widmete seiner Zigarette unnötig viel Aufmerksamkeit. Das Mädchen verstörte ihn. In der Nähe schäckerte eine Elster.
»Du glaubst mir nicht, stimmt’s?«, beharrte sie.
Quinn steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie mit einem Zweig aus dem Feuer an. Das war eine gute Frage; er wusste nicht mehr genau, was er glauben sollte. Vielleicht war alles möglich, vielleicht aber auch nur sehr wenig. Der Zigarettenrauch kratzte in seiner Kehle. Er hustete.
Das Mädchen ging ein Stück weg, stöberte mit den nackten Füßen im Laub und bückte sich hier und da, um irgendwas zu betrachten, das sie im Schmutz entdeckt hatte. Quinn schob die freie Hand in die Tasche und befingerte den Revolver. Wenn nötig, konnte er ihn wohl hervorziehen.
Inzwischen war die Sonne über den Rand der Erde gestiegen und verströmte ihre Wärme. Der Tag kam allmählich in Gang. Quinn dachte an seine Eltern dort unten im Tal. Die Bewohner von Flint würden ihr Tagwerk beginnen, würden gekochte Eier essen und Tee trinken.
Das Mädchen kam auf ihn zu. »Willst du mich jetzt erschießen?«
Sie war keck, das musste man ihr lassen. Quinn zog die Hand wieder aus der Tasche. »Red keinen Unsinn.« Er hielt inne. »Warst du das letzte Nacht im Gebüsch? Hast du mich beobachtet?«
Mit ernstem Gesicht verwandelte sie ihre Hand in einen Revolver, richtete ihren Zeigefinger auf ihn und spannte den schmutzigen Daumen. »Wer ist da? Zeig dich.«
Ein paar Sekunden standen die beiden reglos da, bis das Mädchen in Gelächter ausbrach und umherschlenderte, als wäre es ihr Zuhause. Quinn zog an seiner Zigarette. Er schnippte den Stummel ins Feuer und spürte – wie Wellen, die sich weit draußen auf dem Meer auftürmen – einen Hustenanfall, der wie erwartet mit heftigem Würgen begann und dann in krampfhaftem, schmerzvollem Prusten endete.
Das Mädchen schreckte zurück. »Hast du die Seuche?«
Kopfschüttelnd setzte er sich auf einen Baumstamm. Er krümmte sich, griff sich an den Bauch und ächzte vor Schmerz, bis der Husten irgendwann nachließ und er schwitzend und mit zitternden Eingeweiden dasaß. Als er seine Umgebung wieder wahrnahm, sah er, dass sie neben ihm stand und ihm die Hand auf die Schulter gelegt hatte. Er widerstand dem Drang, sie abzuschütteln, spuckte stattdessen ins Feuer und wischte sich den Mund und die tränenden Augen ab.
»Hast du einen Gasangriff erlebt?«
Er nickte.
»Wo denn?«
»In Frankreich.«
»Genau wie Tom Smith.« Sie kauerte sich wieder hin und warf einen Zweig nach dem anderen ins Feuer. »Du hättest letzte Nacht nicht auf mich schießen sollen. Das kann man im ganzen Tal hören …«
Was sie als Nächstes sagte, verstand er nicht. »Was?«
»Ich hab gesagt: Manchmal verstecken sich Leute hier oben.«
»Was für Leute?«
Das Mädchen zuckte mit den Schultern. »Leute, die vor der Eulenpest flüchten …«
»Beulenpest.«
»Was?«
»Es heißt Beulenpest. Nicht Eulenpest. Und es ist sowieso keine Beulenpest. Es ist die Grippe.«
Wieder zuckte sie mit den Schultern. »Landstreicher verstecken sich hier oben. Verbrecher. Manchmal auch jemand, der Angst hat, zum Militär zu müssen. Unten in Flint haben die Menschen inzwischen vor allem Angst. Erschießen manchmal jemanden«, fügte sie als nachträglichen Gedanken hinzu.
»Erschießen jemanden? Wer tut das?«
»Mr. Dalton hat vor zwei
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