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Beraubt: Roman

Beraubt: Roman

Titel: Beraubt: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Womersley Chris , Thomas Gunkel
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sich, als würden die Muskeln unter ihrer fahlen Haut einem bösen Einfluss gehorchen.
    »Du siehst dünn aus«, sagte sie, als führten sie plötzlich ein anderes Gespräch. »Und abgerissen. Einige glauben, das Ende der Welt könnte bevorstehen. Neulich war der Pfarrer da. Auch er kommt auf die Veranda, um mich zu besuchen. Er hat gesagt, es steht in der Bibel, als würde ich mich deshalb besser fühlen. Der Herr wird dich schlagen mit Darre und Fieber . Die Pest. Das ist einer der vier apokalyptischen Reiter.«
    Quinn klopfte sich den Staub von der Hose. In den letzten Monaten waren viele Gerüchte über das Ende der Welt umgegangen. Die Männer auf der Argyllshire hatten in Portugal mit jungen Mädchen nervös von der Heiligen Jungfrau geredet, von Heuschreckenschwärmen in Palästina, von seltsamen Lichtern über den Gewässern der Welt. Darüber wollte er nicht nachdenken.
    »Was meinst du, Quinn? Glaubst du, es könnte das Ende sein?«
    Seine Mutter hatte den Gesichtsausdruck eines Menschen, der Angst hatte, bald sterben zu müssen, und dennoch beruhigt werden wollte. »Ich glaube nicht«, sagte er schließlich ohne große Überzeugungskraft.
    »Es ist unwichtig. Zumindest werde ich meine geliebte Sarah sehen.« Sie trank wieder einen Schluck Wasser, bevor sie fortfuhr. »Witwen, Witwer. Waisenkind – du weißt ja, dass ich eins war. Quinn, weißt du auch, dass es nicht mal ein Wort für eine Mutter gibt, die ein Kind verloren hat? Seltsam, oder? Man sollte es meinen, nach all den Jahrhunderten voller Krieg, Krankheiten und Leid, aber nein, da klafft eine Lücke in der englischen Sprache. Es ist nicht in Worte zu fassen. Beraubt.«
    Quinn machte sie nicht darauf aufmerksam, dass es auch kein Wort für einen Bruder gab, der seine einzige Schwester verloren hat.
    »Selig sind, die da Leid tragen«, murmelte sie, »denn sie sollen getröstet werden.« Seine Mutter kannte für fast alles einen Bibelvers.
    Plötzlich sah sie ihn anders an. Ihr war etwas in den Sinn gekommen. »Muss ich vor dir Angst haben, Quinn?«
    »Bitte, Mutter.«
    Ein trockener Wind drang durch die schweren roten Vorhänge. Sie hustete. »Wenn wir nicht an unsere Kinder glaubten, wäre die Menschheit verloren. Wenn alles andere in Trümmern liegt, bleibt uns nur noch die Familie. Und Gott natürlich.«
    Seufzend deutete sie auf die auf dem Bett liegenden Bücher. »Die hat mir dein Vater heute früh gebracht, bevor er aufbrach. Ich habe ihn gebeten, mir etwas zu lesen zu holen, und er hat diesen Armvoll Bücher gegrapscht. Kann ihm wohl keinen Vorwurf machen. Er wollte nicht zu lange bei mir bleiben.«
    Seine Mutter verstummte. Quinn betrachtete das Buch in seiner Hand. Nach einer Weile schlug er aufs Geratewohl eine Seite auf und begann laut vorzulesen.
    »So, und woher wisst ihr das?«, las er. »Seid ihr vielleicht dort gewesen und habt es selbst gesehen? Und wenn ihr dort gewesen wärt und keine gesehen hättet, würde das noch nicht beweisen, dass es keine gibt … Und niemand hat das Recht zu behaupten, es gäbe keine Wasserbabys, bevor er sich davon überzeugt hat; das ist allerdings etwas völlig anderes, als keine Wasserbabys zu sehen.«
    Er las noch ungefähr zehn Minuten, bis seine Mutter schlief, doch als er das Buch zuklappte und gehen wollte, schlug sie die Augen auf und zog ihn an sich.
    »Geh noch nicht. Bitte.«
    »Mutter. Dir geht’s nicht gut. Ich muss weg sein, bevor Vater zurückkommt.«
    »Erzähl mir, wo du vor dem Krieg warst. Erzähl mir etwas von deinem Leben.«
    Er seufzte. »Vor dem Krieg habe ich auf einer Farm gearbeitet«, sagte er. »Und eine Zeit lang habe ich in der Nähe von Grafton Gleise verlegt …«
    Da ertönte Nathaniels Stimme im Hof. Seine Mutter hielt die Luft an. Quinn hörte die Stiefel seines Vaters über die Veranda stapfen.
    16 In panischer Angst trat Quinn hinter den Schrank. Sein Vater beugte sich halb durch das offene Fenster. Quinn wich noch weiter zurück. Sein Herz pochte heftig in der Brust, doch im Schatten konnte ihn sein Vater nicht sehen.
    »Alles in Ordnung, Mary?«
    »Mir geht’s gut.«
    »Aber ich hab dich reden gehört.«
    Mary scheuchte Nathaniel vom Fenster weg, und er taumelte zurück und sank auf den Stuhl auf der Veranda. Offenbar war er betrunken. Er atmete schwer und fragte noch mal, wie es ihr gehe.
    »Der Arzt«, sagte er immer wieder, »der Arzt kann auch nicht viel ausrichten.« In seiner zitternden Stimme lag Angst. Er sagte, die andere Arznei, die er in Sydney

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