Beraubt: Roman
übrig. Er hatte gehofft, dass seine Kriegserfahrung eine Art Buße sein würde, doch sie hatte nichts dergleichen geboten. Männer starben und wurden durch andere ersetzt. Sie kauerten in den Schützengräben, in Mulden, in Ruinen, viele von ihnen so schmutzig und grau im Gesicht, als wären sie aus Erde geformt. Inzwischen fürchteten sie sich nicht so sehr vor dem Tod wie davor, für immer so leben zu müssen. Er hatte festgestellt, dass der Krieg alle Sinne der Menschen zerstörte: Wenn er die Augen vor den zerschossenen Bäumen und den blutenden Männern schloss, hörte er immer noch Geschütze und Schreie; wenn er sich die Ohren zuhielt, spürte er immer noch die bebende Erde; der Geruch von Gas saß in seinen Nasenlöchern; alles, was er anfasste, war feucht oder blutig. Selbst im Schlaf träumte er von Explosionen flackernden Lichts, von zerfetzter Kleidung, von ächzendem Gelächter. Und das hörte nie auf.
Und seine Schwester war immer noch tot.
Eines kalten Nachmittags hockte Quinn da, den Rücken an die Steinwand der Scheune gelehnt, als er merkte, dass ihn der Junge beobachtete, und irgendwann kam Philippe durch eine Gänseherde zu ihm herübergerannt. Er hatte blaue Augen und Sommersprossen auf der Nase. Quinn mochte den Jungen. Er hätte ihm gern versichert, dass mit seinen Eltern alles in Ordnung komme und der Krieg bald vorbei sei, doch er beherrschte seine Sprache nicht und konnte sich zudem durchaus täuschen. Falsche Versprechungen waren mit Sicherheit schlimmer als gar keine.
Philippe musterte ihn und begann zu reden. »Du willst«, sagte er in seinem gebrochenen Englisch, »dann komm mit. Ich zeige dir … etwas.«
Quinn schüttelte den Kopf. Er wollte bleiben, wo er war, mit dem Rücken an eine Wand gelehnt, die vermutlich schon dreihundert Jahre stand. Doch der Junge war beharrlich. Er zog an Quinns Ärmel, und irgendwann gab Quinn nach.
Im Dorf roch es nach Mist und nach Brot. Sie gingen an einer alten, schwarz gekleideten Frau vorbei, die sie böse ansah. Schließlich kamen sie zu einer großen Holztür. Philippe klopfte und bat inständig, dass man ihnen öffnete. Nach ein paar Minuten hörten sie, wie ein Riegel zurückgeschoben wurde, und sie schlüpften hinein. Ein Mann geleitete sie in einen steinernen Säulengang, der zu einem Hof führte. Er trug eine Soutane: also ein Geistlicher. Quinn wurde langsam ungeduldig. Er fror und war hungrig. Er blies sich in die Hände und stampfte mit den Füßen auf.
Sie betraten einen Stall, der bis auf das auf dem Boden verstreute Stroh leer war. Philippe und der Geistliche knieten sich in die Ecke auf der anderen Seite und fegten dort mit den Händen das Stroh beiseite. Dann ließen sie die Finger eine Fuge entlanggleiten – offenbar eine Kellertür, die sie mithilfe eines Messingrings hochzogen. Der Geistliche war verärgert, zündete aber eine Kerze an und stieg murrend in den Keller hinab. Philippe winkte Quinn, ihm zu folgen.
Quinn blieb stehen. Woher sollte er wissen, dass diese Katholiken nicht vorhatten, ihn zu ermorden? Er hatte Gerüchte über solche Verräter gehört. Hatte irgendjemand gesehen, wie er mit dem Jungen aufgebrochen war? Er schob die Hände unter die Achseln und starrte zu dem schräg hereinfallenden Sonnenlicht im Hof zurück. Doch als Philippe ihn drängte weiterzugehen, stieg Quinn die Holztreppe hinunter.
Der Keller war feucht, von einem unpassenden tropischen Geruch erfüllt, wie von überreifen Früchten. Der Geistliche zündete weitere Kerzen an, zog einen Vorhang auf und drehte sich mit schüchternem Stolz zu Quinn um.
Quinn verschlug es den Atem. Auf einem niedrigen Tisch lag ein weiß gekleidetes Mädchen. In dem schwachen Licht war der Tisch kaum zu erkennen, und es sah so aus, als schwebte das Mädchen auf Hüfthöhe in der Luft. An der Wand hing eine Karte mit der Jungfrau Maria, und auf einem Regal in der Nähe befanden sich Kreuze, unbenutzte Kerzen, silberne Kelche und Schalen. Philippe nickte lächelnd. »Sainte Solange«, sagte er. »C’est Sainte Solange.«
Die Heilige war noch jung und hatte dunkles, sprödes Haar. Ihre Hände, die auf dem Bauch lagen, waren schmal und vertrocknet, eher krallenartig, und ihre Fingernägel hatten die Farbe von Portwein. Um den Hals trug sie ein rosafarbenes Band, daran war mit einem winzigen Verschluss ein silbernes Kreuz befestigt, das halb hinter ihrem hohen Kragen verborgen war. Ihr Kleid war stellenweise zerrissen, doch am rührendsten waren die braunen
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