Beraubt: Roman
mich etwas fragen und wieder gehen. Weißt du noch, wie Quinn eine Zeit lang darauf beharrte, er hieße Ente? Immer wieder hast du ihn nach seinem Namen gefragt, nur um es ihn sagen zu hören. Meine kleine Ente hast du ihn genannt. Weißt du noch? Und wie ernst und still William war, auch als Kind? Und die arme Sarah …« Mary begann zu weinen.
Quinns Vater rauchte seine Pfeife. Sein Schweigen zeigte, dass die Tränen seiner Frau für ihn nichts Neues waren.
Nach einer Weile begann er zu erzählen. »Ich kam die Straße lang, auf dieser Stute, die wir damals hatten. Jenny. Es war schon spät – das weißt du bestimmt noch –, und Sarah war seit Stunden unterwegs. Die beiden waren den ganzen Nachmittag weg gewesen. Du weißt ja, dass sie immer zusammensteckten, dass sie immer irgendwas ausheckten wie zwei verdammte Wilde. Daran war natürlich der Junge schuld. Sarah war noch zu klein, um so oft in seiner Obhut zu sein …«
»Red keinen Unsinn. Sie haben aufeinander aufgepasst.«
Sein Vater räusperte sich. »Weißt du noch, wie sie mal verschwunden sind, ungefähr ein Jahr … vor Sarahs Tod? Als sie in der Schule sein sollten? Und darauf verfielen, Oliver Sharp zu bestehlen? Auf diese Idee war der Junge gekommen. Und irgendwer hat die beiden da mit meinem Spaten entdeckt und sie nach Hause geschleift. Der alte Sharp, dieser Glückspilz, hat gar nicht gewusst, was vor sich ging.«
Quinn konnte sich noch lebhaft an diesen Morgen erinnern. Es war ein frischer, strahlender Frühlingstag drei Jahre vor dem Mord an Sarah gewesen. William war damals schon achtzehn und half meistens Mr. Greely in dessen Obstgarten. Sie waren alle drei früh aufgebrochen und gemeinsam zu Greelys Haus marschiert, von wo Quinn und Sarah allein zur Schule gehen sollten.
Sarah ging gern zur Schule, weil es dort Unmengen von Kindern gab, die sie für ihre verschiedenen Spiele rekrutieren konnte. Die Passanten kicherten, wenn sie sahen, wie Sarah auf einer Obstkiste stand und einem halben Dutzend ungeduldigen Kindern die Regeln ihres neuesten Unterfangens vorgab. In ihrer Kühnheit und ihrem Streben nach Neuem war sie ihrem Vater ähnlicher, als alle ahnten.
An den meisten Tagen blieb Quinn morgens an einem Trampelpfad in der Nähe ihres Hauses stehen, um mit Steinen nach einem Blechschild zu werfen, das knapp zehn Meter entfernt an einen Baum genagelt war und auf das jemand die Worte Schießen verboten gekritzelt hatte. Meistens traf er das Schild bei fünf Versuchen mindestens drei Mal.
Sarah sah ihm dabei kritisch zu. »Keine Chance«, sagte sie diesmal, als Quinn den ersten Stein warf, der tatsächlich weit am Ziel vorbeiflog. »Du wirfst immer viel zu weit nach rechts.«
Quinn probierte es noch mal und wurde diesmal mit dem befriedigenden Scheppern eines Steins belohnt, der auf Blech trifft. Sarah klatschte vor Freude und drängte ihn, weiterzuwerfen. Seine nächsten drei Versuche waren erfolgreich. William war inzwischen schon ziemlich weit voraus und rief, dass sie sich beeilen sollten, doch sie schenkten ihm keine Beachtung. Sarah sagte ganz aufgeregt, wenn Quinn das Schild beim nächsten Wurf treffe, sei es das fünfte Mal hintereinander.
Wieder rief William, er gehe jetzt weiter. Quinn winkte als Zeichen, dass er verstanden hatte, und William verschwand zwischen den Bäumen.
»Wenn du zum fünften Mal hintereinander triffst, kriegst du einen Preis«, sagte Sarah und gab ihm einen geeigneten Stein.
»Was für einen Preis?«
Sarah betrachtete den Grashalm in ihrer Hand. »Erst musst du es schaffen, Pim.«
Er hielt inne, drehte sich dann um und warf den Stein, ohne auch nur zu zielen. Der Wurf war perfekt. Peng . Kreischend warf ihm Sarah die Arme um den Hals.
»Und was ist der Preis?«
»Ein Abenteuer.«
Quinn erschauderte. »Nein. Wir sollten jetzt wirklich zur Schule gehen. Miss Haylock wartet bestimmt schon auf uns.«
Sarah kratzte sich an der Braue und zeigte weder für das eine noch für das andere große Begeisterung, als wäre ihr das Ganze egal. »Ach, wie du willst.«
Quinn warf einen Blick auf die umstehenden Bäume. Der Tag hatte begonnen wie jeder andere – Haferbrei zum Frühstück, die Hühner aus dem Stall lassen, von ihrer Mutter zur Tür hinausgeschoben werden –, doch jetzt lag er offen vor ihnen wie ein aufgeplatztes Ei. Das war Sarahs schreckliche Gabe: ihre Fähigkeit, die Welt mit Möglichkeiten zu erfüllen.
Wie immer gab Quinn nach, und zehn Minuten später hockten sie am Flint River unter
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