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Beraubt: Roman

Beraubt: Roman

Titel: Beraubt: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Womersley Chris , Thomas Gunkel
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wartete, sie tauchte stets aus dem Nichts auf, kam ohne hörbare Schritte und ohne zu erklären, wo sie gewesen war. Die Verzweiflung, in die ihn ihre Abwesenheit stürzte, überraschte ihn. Im Lauf der Jahre hatte er sich an Einsamkeit gewöhnt und fand es oft angenehmer, allein zu sein. Er hatte sich zu einem Menschen entwickelt, der sich abseits hielt, und dann plötzlich so was. Diese seltsame Sehnsucht.
    Sadie redete nicht viel oder verriet zumindest nicht mehr viel über sich. Wenn Quinn nach ihren Eltern fragte, zuckte sie mit den Schultern und stieß diffuse Laute des Bedauerns aus. Wenn er nicht aufhörte, wurde sie erst mürrisch, dann wütend, und Quinn bekam ein schlechtes Gewissen, weil er sie so bedrängte. Er schauderte bei der Vorstellung, alle Kinder auf der Welt seien schutzlos zurückgelassen, durch Krieg oder Krankheit gezwungen, für sich selbst zu sorgen. Ihm stand ein Kreuzzugsheer von Kindern vor Augen, das mit Sarah an der Spitze durchs Land stürmte, um an denen Vergeltung zu üben, die sie im Stich gelassen hatten.
    Er sah sie bisweilen, wenn er draußen Holz sammelte oder von einem Besuch bei seiner Mutter zurückkehrte. Dann kniete sie im Farn und führte offenbar ein Gespräch mit einem Insekt oder einer Eidechse, die er nicht sehen konnte. Einmal sah er, wie sie dastand und sich mit dem gesamten Körper an den Stamm eines Weißbaums drückte, in Zwiesprache mit der abblätternden Rinde. Er beobachtete sie aus drei Metern Entfernung, bis sie sich ihm zuwandte, als hätte sie die ganze Zeit von seiner Anwesenheit gewusst, blinzelnd die Hand durch ihr fettiges Haar gleiten ließ und erklärte: »Dieser Baum sagt, dass es heute Nacht regnet. Die Ameisen sagen dasselbe. Die wissen natürlich alles. Sie reden mit allen hier. Siehst du, wie sie stehen bleiben und miteinander plaudern?«
    Dass es regnen würde, war unwahrscheinlich: Der Himmel war blau und wolkenlos. An jenem Abend aßen sie gekochte Kartoffeln und Honigbrote. Die Hütte war von zahlreichen Kerzen und einer Gaslampe erleuchtet, die sie irgendwo aufgegabelt hatte.
    Später hörte er dumpfes Donnergrollen, gefolgt von einem Regenschauer, der als ein Säuseln begann und dann immer lauter wurde wie ein aufspringendes, Beifall klatschendes Publikum. Als er nach draußen ging, fielen große, schwerfällige Tropfen auf seine ausgestreckte Hand. Eine Woge des Trostes und der Angst überkam ihn, als er spürte, dass Sadie hinter ihm in der Hütte stand und ihn beobachtete. Regen, genau wie sie gesagt hatte. Regen.
    15 Die Luft im Zimmer seiner Mutter war warm, ermüdend. Wie immer schlief sie. Im Profil sah sie wie eine Königin aus, ihr Hals wie aus Marmor. Die Vorhänge waren wegen der Sommersonne zugezogen.
    Er dachte daran, wie er im Krieg mit mehreren anderen australischen Soldaten in einem französischen Dorf, in dem ungefähr hundert Familien lebten, auf einem Bauernhof einquartiert gewesen war. Das Dorf hatte gepflasterte Straßen und strohgedeckte Häuser, einen schäbigen Platz aus gelbem Sand, auf dem sich nachmittags die alten Männer versammelten, um zu rauchen. Es gab auch eine Kirche, in der Gerüchten zufolge unter anderem der perfekt erhaltene Körper einer Schäferin liegen sollte, die vor Hunderten von Jahren enthauptet worden war, weil sie die Annäherungsversuche eines Schurken zurückgewiesen hatte, die aber ihren abgetrennten Kopf noch mehrere Kilometer weit getragen hatte, bevor sie tot umfiel. Das Dorf hätte noch genau wie vor Hunderten von Jahren sein können, wäre nicht das ständige Grollen der Artillerie von der dreißig Kilometer entfernten Front gewesen.
    Der Bauernhof wurde von einem älteren Paar betrieben. Ihr elfjähriger Enkel Philippe wohnte bei ihnen: Philippes Vater war im Krieg, und seine Mutter war aus ungeklärten Gründen in Paris. Wenn die Soldaten abends Karten spielten, stand der Junge immer an der Tür herum. Ein Bursche namens Bill Spark nannte ihn den »Spion«. »Vorsicht, Jungs«, sagte er zwinkernd. »Der Spion ist da. Passt jetzt lieber auf, was ihr sagt.«
    Es war im Spätwinter 1918 . Es wimmelte nur so von Nachrichten und Gerüchten: Die Deutschen hätten an der Ostfront hunderttausend Männer gefangen genommen; die Briten rückten auf der Straße von Jerusalem nach Nablus vor; auf einem Kreuzer, der vor der irischen Küste versenkt wurde, seien Hunderte ums Leben gekommen; Billy Hughes habe Typhus. In Quinns eigenem Bataillon waren von tausend Mann nur noch ungefähr dreihundert

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