Beraubt: Roman
einen Eimer Wasser aus dem Tank, um sich draußen zu waschen. Libellen flogen umher und fingen das Sonnenlicht in ihren schwirrenden Flügeln ein. Der Morgen war kühl, stellte aber wieder sengende Hitze in Aussicht. Eisiges Wasser ergoss sich tassenweise über seinen Kopf und lief sein Gesicht und seine Brust hinab. Mit kurzen, schmerzenden Atemzügen wusch er sich den Hals und die hochgezogenen Schultern und breitete die Arme über den Kopf wie ein Vogel die Flügel.
Er hörte die Tür zuschlagen, und als er sich umdrehte, sah er, dass Sadie ein paar Meter entfernt stand und ihn beobachtete. Ihr fester Blick glitt über seinen nassen Rumpf. Wer wusste schon, was ihr durch den Kopf ging? Sie musterten sich eine Weile, und dann kam sie durch das hohe Gras auf ihn zu, hob die Hand und riss ihm mit einer zärtlichen und zugleich ruppigen Bewegung den Schorf von dem Kreuz ab, das er sich vor ein paar Tagen in die Brust geritzt hatte. Er war so schockiert über diese unerwartete Tat, dass er erst spürte, was geschehen war, als er einen dicken Blutfaden aus der Wunde treten und seinen Brustkorb hinabrinnen sah. Der Schmerz war mürbe, köstlich, und er erschauderte. Irgendwas waberte am Rand seiner Erinnerung, verschwand und kehrte wieder zurück. Blut. Sarahs Blut, an ihrem Körper, an seinem. Ihr Gewicht, die trüben Münzen ihrer Augen. Als er wieder aufblickte, war Sadie schon nach drinnen gegangen.
21 Als Quinn am nächsten Morgen erwachte, war er allein. Er lag mit seinem Mantel als Kissen auf dem Fußboden. Er fühlte sich schwach; vielleicht war das Wasser, das sie aus dem rostigen Tank zapften, vergiftet – vielleicht war eine Beutelratte oder ein Koala darin verendet. Dass sie sich von mageren Kaninchen, altem Brot und gestohlenen Dosenbohnen ernährten, war nicht hilfreich. In seinem Kopf hörte er das dumpfe Geknatter der Artillerie, doch der Krieg schien jetzt Tausende von Kilometern entfernt zu sein, so wie mitten im Hochsommer der Winter etwas Unvorstellbares ist. Eine Maus huschte über den Fußboden und verschwand in einem Loch. Wie vom Erdboden verschluckt, einfach so.
Er schlief den ganzen Tag über immer wieder ein und wurde von einem quälenden Hustenanfall geweckt. Als er wieder für die Welt empfänglich war, kauerte Sadie vor ihm und hielt ihm eine Tasse Natron mit Wasser an den Mund. Sie tauchte stets auf, wenn er sie brauchte. Er stürzte die Mixtur hinunter, und als er sich aufsetzen konnte, nahm sie seine Hand und brachte ihn nach draußen. Dort stand, mit einem ausgefransten Seil an einen Baum gebunden, das Lamm, das er bei seiner Ankunft gesehen hatte. Das Tier blökte und schüttelte den knochigen Kopf. Sadie kniete sich hin, um das Gesicht des Lamms zu küssen, band es dann los und führte sie – Quinn an der Hand, das Lamm an seinem Seil – in den Busch.
Auch wenn er keinen Einwand erhob, hatte das Mädchen offenbar sein Zögern gespürt. Sie zog an seiner Hand, bis er sich vornüberbeugte. Sie legte die Lippen an sein Ohr, und die Worte, die sie aussprach, umgingen sein Gehör und drangen stattdessen in sein Herz.
»Pim«, flüsterte sie. »Du musst mir vertrauen.«
Quinn starrte ihr Gesicht an, ihre kirschschwarzen Augen und den Schnitz ihres Mundes. Sie leckte die Schweißperlen weg, die sich schon auf ihrer Oberlippe gebildet hatten. Dann ließ sie seine Hand los, murmelte dem Lamm ein paar aufmunternde Worte zu und führte es ins Unterholz. Quinn wartete einen Augenblick, bevor er ihnen nacheilte.
Sie marschierten zwei Stunden lang und stiegen, vor Anstrengung keuchend, immer höher in die Hügel hinauf. Der Weg war felsig und steil. Das Lamm machte den Aufstieg nur widerwillig mit, und sie mussten ihm gut zureden; vielleicht befürchtete es, etwas Unangenehmes tun zu müssen. Sie kamen zu einer Höhle, die hoch oben im Fels lag. Der Wind brauste durch die umstehenden Bäume, und als sie am granitenen Rand der Höhle standen, sahen sie das Muster der Erde, das ihnen normalerweise verborgen blieb, und überblickten die westlichen Ebenen von New South Wales. Felder und Straßen, Dutzende brauner Deiche, Baumgruppen, das auf den Blechdächern funkelnde Sonnenlicht, das Flimmern der Bäche.
Der Höhleneingang war riesig, vielleicht hatte sich Gott dort festgehalten, als er vor all den Jahren über die Erde gewandelt war, um sein Werk in Augenschein zu nehmen. Quinn fragte sich, wie es wohl sein mochte, mit den Augen Gottes zu sehen: den ganzen Planeten und alle Menschen, ihre
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