Bereue - Psychothriller (German Edition)
einen Menschen in deinem Leben?”
Traurig schüttelte der Mann den Kopf. “Nicht mehr.” Er zog ein zerknittertes Foto aus der Innentasche seines Mantels und hielt es Ben vor die Nase. “Das ist meine Anne mit unserer Kleinen, der Marie. Die sind umgekommen bei einem Unfall. Ich bin gefahren und hab‘s überlebt.” Das Bild war der Mode nach viele Jahre alt und zeigte eine blonde Frau und ein etwa sechsjähriges Mädchen. Die Schuld musste dem Mann den Lebensmut geraubt haben.
Was für ein trauriges Schicksal, erschütternder als sein eigenes. “So eine schöne Frau und so ein liebes Mädel. Mit den beiden hast du bestimmt eine schöne Zeit gehabt.”
Liebevoll verstaute er das Foto wieder in seiner Tasche. “Das war eine gute Zeit.” Er tätschelte Ben den Arm. “Jetzt reiß dich zusammen und schau zu, dass du den Scheiß wieder auf die Reihe kriegst. Wenn dich dein Mädel mal gemocht hat, dann mag sie dich immer noch.”
Das war eher unwahrscheinlich. “Ich danke dir für den Wein und das anregende Gespräch.” Ben stand auf und gab dem Mann die Hand. “Lass es dir gut gehen. So gut, wie’s halt geht.”
Der Mann zeigte noch einmal sein lückenhaftes Grinsen. “Alles Gute.”
Langsam ging Ben weiter. Die Fäuste in den Taschen geballt traf er eine Entscheidung: Kämpfen. Wie auch immer, gegen wen auch immer, für was auch immer.
Der Tod musste warten.
25
Frisch geduscht, in ein luftiges Sommerkleid gekleidet, ging sie in der Wohnküche auf und ab. Stefan würde jeden Moment klingeln. Auf dem Tisch stand Bens Kaffeetasse mit dem braunen Streifen, dort wo der Kaffee heruntergelaufen war. Ein herbmännlicher Geruch hing in der Luft. Vorhin war ihr nicht aufgefallen, dass Ben nach kalten Schweiß stank. Er musste komplett am Ende sein, wenn ein penibler Mensch wie er sich so gehen ließ.
Ob er noch lebte? Sie starrte durch das Fenster auf die Straße hinaus, dorthin, wo sein Wagen gestanden war. Es war seine Entscheidung, sie wollte damit nichts zu tun haben. Was für eine elende Zicke sie ihm gegenüber gewesen war. Dabei verabscheute sie andere Frauen, die sich so aufführten. Ihr Selbsterhaltungstrieb musste sie angetrieben haben, als sie ihn wie einen Straßenköter davongejagt hatte. Wenn sie bereit war, ihm seine verrückte Geschichte zu glauben, musste sie sich mit seinem Schicksal auseinandersetzen. Er würde wieder einen Platz in ihrem Leben einnehmen. Das durfte nicht geschehen. Nie wieder.
Die Vorstellung, in der Zeitung von seinem Selbstmord zu lesen, schnürte ihr die Luft ab. Nein, sie konnte das nicht zulassen. Sie wühlte ihr Handy aus der Handtasche. Die Hand mit dem Telefon sank herab. Sie hatte keine Nummer von ihm. Und sie hatte keine Ahnung, wo er war.
Es war seine Entscheidung, hämmerte sie sich ein. Das hatte nichts mit ihr zu tun.
Das Brummen eines Dieselmotors holte sie in ihre Küche zurück. Durch das Fenster sah sie Stefans dunkelblauen Combi.
Im Flur begutachtete sie sich im Spiegel. Der hellblaue Seidenschal verbarg die Verfärbung an ihrem Hals. Die Haut unter ihren Augen schimmerte lila. “Hübsch”, kommentierte sie, streckte der Annelie im Spiegel die Zunge raus und öffnete die Haustür.
Der helle Leinenanzug harmonierte mit Stefans semmelblonden Haaren. Lächelnd reichte er ihr die Hand. “Schöne Maid, kommt, lasst euch entführen in des Königs Schloss. Auf dass dieser Tag genussvoll und strahlend werde!”, begrüßte er sie und hauchte einen Kuss auf ihren Handrücken. Ein blumig-herber Duft umgab ihn.
Kichernd zog sie ihre Hand zurück. “Du Schelm.” Sie hakte sich bei ihm ein und ließ sich zum Wagen führen.
Schwungvoll öffnete er die Beifahrertür. “Möge unser Ausflug nach eurem Geschmack sein. Welch trefflich Wetter uns der Himmel beschert.”
Mit einem Lachen stieg sie ein. “Nun lass den Quatsch. Mir wird ganz wirr im Kopf.”
Eine gute Stunde später parkten sie am Hafen in Prien am Chiemsee und bestiegen zusammen mit einer Flut Touristen den Dampfer Edeltraud. Dank des Wetters zog es die Menschen scharenweise an diesem ganz normalen Mittwoch auf die Herreninsel.
Der Fahrtwind bauschte ihr Kleid, wehte ihr die Haare ins Gesicht. Die Hände an der Reling hielt sie ihr Gesicht mit geschlossenen Augen der Sonne entgegen und genoss das Gefühl von Freiheit. Wie es Ben jetzt wohl ging?
“Wir könnten noch einen Rundgang um die Insel machen. An der Westseite gibt es einen herrlichen Aussichtspunkt”, holte Stefan sie
Weitere Kostenlose Bücher