Berg der Legenden
nur, dass ihr Mann lebend zurückkehrte. Doch sie hatte das Spiel so gut gespielt, dass jedermann überzeugt war, es sei ihr Wunsch, dass George ein letztes Mal die Gelegenheit hatte, sich seinen Traum zu erfüllen. In Wahrheit war es ihr gleichgültig, ob er Erfolg hatte oder scheiterte, solange sie nur zusammen alt werden und den heutigen Tag lediglich als verblassende Erinnerung im Gedächtnis behalten würden.
***
Als George sein Heimatland nicht länger sehen konnte, zog er sich in seine kleine Kabine zurück. Er setzte sich an den Tisch unter dem Bullauge und begann einen Brief an die einzige Frau, die er jemals geliebt hatte.
Meine geliebte Ruth …
Achtes Buch
Der Tag des Aufstiegs
54
12. März 1924
Meine geliebte Ruth,
die lange Seereise hat allein dazu gedient, mich daran zu erinnern, was für ein Haufen feiner Burschen ich das Privileg habe anzuführen. Viel zu oft denke ich an die Opfer, die ich erbracht habe, und viel zu selten an diese guten Männer, die bereit sind, mich bei diesem launenhaften Abenteuer zu begleiten, und welche Kümmernisse auch sie in den vergangenen zwei Jahren mit ihren Familien und Freunden durchleiden mussten.
Entgegen meinen anfänglichen Befürchtungen entpuppte sich Sandy Irvine als ein ganz außergewöhnlicher Bursche. Obwohl erst zweiundzwanzig, sitzt da ein schlauer Kopf aus dem Norden fest auf den breiten Schultern, und der Zufall, dass wir beide aus Birkenhead stammen, würde in keinem Roman hingenommen werden.
Natürlich mache ich mir immer noch Sorgen, weil er noch nie höher als 1570 Meter geklettert ist, aber ich muss zugeben, dass er wesentlich kräftiger ist als irgendeiner von uns, wovon sich die Passagiere während unseres morgendlichen Übungen unter dem gefürchteten General Bruce überzeugen können. Bruce ist mit seiner Rolle als Dirigent vollauf zufrieden und verspürt keinerlei Verlangen, Teil des Orchesters zu sein.
Ich muss außerdem zugeben, dass Hinks in Bezug auf Irvines Fähigkeiten in Chemie nicht übertrieben hat. In dieser Hinsicht ist er Finch durchaus ebenbürtig, obwohl Norton und Odell sich der Vorstellung, Sauerstoff zu verwenden, immer noch verweigern, ganz zu schweigen davon, dass sie sich diese sperrigen Behälter auf den Rücken schnallen lassen würden. Ob sie wohl am Ende akzeptieren, dass wir nicht darauf hoffen können, ohne Hilfe dieses Teufelszeugs den Gipfel zu erreichen? Oder werden sie, um mit Finchs Worten zu sprechen, gesegnete Amateure bleiben, die nur scheitern können? Nur die Zeit wird es zeigen.
***
Am 20. März hat unser Schiff in Bombay angelegt, und wir haben sofort den Zug nach Darjeeling bestiegen, wo wir unsere Mulis und Träger auswählten. Wieder einmal vollbrachte General Bruce Wunder, und am nächsten Morgen setzte sich ein langer Treck in Richtung Tibet in Bewegung, mit sechzig Mulis und mehr als hundert Trägern. Ehe wir Darjeeling verließen, speisten wir mit Lord Lytton zu Abend, dem neuen Generalgouverneur, und seiner Gattin, doch da Finch nicht anwesend war, geschah nichts, wovon es sich zu berichten lohnte, außer vielleicht, dass der junge Irvine mehr als ein beiläufiges Interesse an Lynda, der Tochter des Generalgouverneurs, bekundete. Lady Lytton schien erfreut und ermutigte ihn.
In der Botschaft wartete ein Brief meiner Schwester Mary auf mich. Zu unserem Glück wurde ihr Gatte nach Ceylon gesandt, und jetzt kann sie uns im Vorfeld warnen, wann der Monsun uns erreichen wird, da er die Insel heimsucht, zehn Tage, bevor er bei uns ankommt.
Am folgenden Morgen brachen wir zu der achtzig Meilen langen Reise zur Grenze auf, die ohne Zwischenfälle verlief. Leider erkrankte General Bruce an Malaria und musste nach Darjeeling zurückkehren. Ich fürchte, wir werden ihn nicht wiedersehen. Er hat seine Badewanne mitgenommen, ein Dutzend Schachteln Zigarren und die Hälfte der Wein- und Champagnerkisten, aber freundlicherweise überließ er uns die andere Hälfte, ganz zu schweigen von den Geschenken, die er so sorgsam für den Dzongpen ausgewählt hat und die wir mit unseren Empfehlungsschreiben an der Grenze vorzeigen werden.
Der Stellvertreter des Generals, Lieutenant Colonel Norton, trägt jetzt die Verantwortung. Du erinnerst Dich vielleicht an Norton als den Mann, der vierundzwanzig Stunden lang den Welthöhenrekord hielt, ehe Finch ihm diesen Titel so unverschämt wegschnappte. Obwohl er das Thema nie erwähnt, weiß ich, dass Norton versessen darauf ist, die Sache wieder ins rechte Lot
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