Berg der Legenden
zu bringen, und ich muss zugeben, dass er, wenn er sich nur bereit erklären würde, ab 8200 Metern Sauerstoff zu verwenden, meine erste Wahl als Seilpartner für den Gipfelaufstieg wäre. Somervell dagegen wankt, was den Sauerstoff anbelangt, so dass er eventuell als Alternative in Frage käme, da ich nicht noch einmal die letzten sechshundert Meter mit Odell in Angriff nehmen möchte.
Dieses Mal kamen wir problemlos über die Grenze, auch wenn wir alle unsere ältesten Schuhe trugen sowie Uhren, die wir billig in Bombay erstanden hatten. Trotzdem konnten wir den Dzongpen mit Geschenken von Harrods, Fortnum’s, Davidoff und Lock’s überhäufen, einschließlich eines schwarzen Opernstocks mit dem silbernen Kopf des Königs, bei dem es sich, wie ich ihm versicherte, um ein Geschenk von Seiner Majestät höchstpersönlich handelte.
Wir waren alle überrascht, als der Dzongpen uns mitteilte, wie leid es ihm tue, von General Bruces Erkrankung zu erfahren, da er sich sehr auf ein Wiedersehen mit seinem alten Freund gefreut habe. Mir entging nicht, dass er die Half-Hunter-Uhr des Generals samt Kette trug, doch meine alte Winchester-Krawatte war nirgends zu sehen.
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Heute Morgen haben wir den Pass am Pang La überschritten. Plötzlich rissen die Wolken auf, und wir erblickten die eindrucksvollen Höhen von Chomolungma, die den Horizont vor uns beherrschten. Wieder raubte mir ihre reine Schönheit den Atem. Ein weiser Mann würde gewiss ihrem verlockenden Charme widerstehen und auf der Stelle umkehren, aber wie die Sirenen des Euripides zog sie uns in ihr felsiges und heimtückisches Terrain.
Während wir immer höher stiegen, hatte ich stets ein wachsames Auge auf Irvine, der sich genauso gut wie jeder von uns an die Höhe angepasst zu haben scheint. Aber andererseits vergesse ich manchmal, dass er sechzehn Jahre jünger ist als ich.
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Heute Morgen hielten wir, mit dem Everest im Hintergrund, einen Gedenkgottesdienst für Nyima und die anderen sechs Sherpas ab, die bei der letzten Expedition ihr Leben verloren hatten. Dieses Mal müssen wir den Gipfel erreichen, und sei es aus keinem anderen Grund, als ihr Andenken zu ehren.
Ich wünschte nur, Nyima könnte jetzt neben mir stehen, denn ich würde nicht zögern, ihn aufzufordern, mich beim Gipfelversuch zu begleiten. Es wäre nur gerecht, wenn ein Sherpa als erster Mensch auf dem Gipfel seines eigenen Berges stünde. Ganz zu schweigen davon, dass es, nach seinem machiavellistischem Verhalten am Abend des Gedenkvortrags, die süßeste Rache an Hinks wäre. Doch leider wird dieses Mal kein Sherpa den Gipfel erreichen, denn obwohl ich unter seinen Landsleuten gesucht habe, habe ich niemanden gefunden, der Nyima ebenbürtig wäre.
Am 29. April erreichten wir endlich das Basislager, und um Hinks gegenüber fair zu sein – was mir noch nie leichtgefallen ist –, war alles genauso eingerichtet, wie ich es verlangt hatte. Dieses Mal werden wir keine wertvolle Zeit damit vergeuden, Lager auf- und abzubauen und ständig Ausrüstung den Berg hinauf- und wieder herunterzuschleppen. Mr Hazard (Ist »Risiko« nicht ein unglücklicher Name für jemanden, der für die Organisation unseres Alltags verantwortlich ist?) versicherte mir, dass das Lager III bereits auf 6400 Metern eingerichtet ist, besetzt mit elf der besten Sherpas, die unter dem Kommando von Guy Bullock unsere Ankunft erwarten.
Ich darf nicht vergessen, dass es Noels achttausend Pfund waren, die all das ermöglicht haben, und er filmt wirklich alles und jeden, der sich bewegt. Die endgültige Dokumentation dieser Expedition wird es gewiss mit Geburt einer Nation aufnehmen können.
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Ich schreibe diesen Brief in meinem kleinen Zelt im Basislager. In ein paar Minuten werde ich mit meinen Kameraden zusammen zu Abend essen, und Norton wird mir offiziell das Kommando übertragen. Anschließend werde ich die Mannschaft mit meinen Plänen für die Besteigung des Everest vertraut machen. Und dann, Liebes, beginnt das großartige Abenteuer von neuem. Dieses Mal bin ich wesentlich zuversichtlicher, was unsere Erfolgsaussichten angeht. Doch sobald ich das überwältigende Objekt meiner Besessenheit bezwungen habe, werde ich einen Schalter umlegen, und kurz darauf stehe ich neben Dir. Daraus kannst Du schließen, dass ich gerade wieder einmal H. G. Wells’ Zeitmaschine lese. Doch selbst, wenn ich seinen geheimnisvollen Schalter nicht betätigen kann, werde ich gleichwohl so schnell wie menschenmöglich
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