Berg der Legenden
Fernrohr, und nachdem er ein Kaninchen beobachtet hatte, das durch den Wald hetzte, wandte er seine Aufmerksamkeit dem Berg zu. Er richtete das Teleskop immer höher auf den Gipfel, doch er wusste, dass die Bergsteiger von hier aus nicht größer als Ameisen sein würden, obwohl es ein klarer Tag war. Es war also sinnlos, nach ihnen zu suchen.
Odell richtete das Fernrohr wieder tiefer und stellte es auf die Holzhütte am Grand Mulets ein. Er meinte, zwei Gestalten davor auszumachen, aber er konnte nicht erkennen, wer Somervell und wer Herford war. Ein Kellner im weißen Jackett tauchte neben ihm auf und schenkte ihm einen Becher heißen Punsch ein. Odell lehnte sich zurück und genoss das Gefühl der warmen Flüssigkeit, die durch seine ausgetrocknete Kehle rann. Einen Moment lang gestattete er sich die Vorstellung, was für ein Gefühl es sein musste, das Scheunentor aufgesperrt zu haben und auf dem Gipfel des Montblanc zu stehen.
Er kehrte zum Fernrohr zurück, obwohl er nicht erwartete, vor fünf Uhr großartige Betriebsamkeit an der Grand-Mulets-Hütte zu sehen. Young war recht zuverlässig, so dass er ihn pünktlich zurückerwartete. Sobald die Seilschaft wieder auftauchte, würde er eine Flasche Champagner kaltstellen lassen, um sie mit denen zu teilen, die im Triumph zurückkehrten. Die Standuhr in der Halle schlug einmal, was bedeutete, dass es halb fünf war. Er stellte das Fernrohr auf die Hütte am Grand Mulets ein, für den Fall, dass die Seilschaft dem Zeitplan voraus war, doch es gab immer noch kein Zeichen irgendeiner Aktivität. Langsam wanderte er mit dem Fernrohr den Berg empor, in der Hoffnung, drei Punkte vor der Linse auftauchen zu sehen.
»Lieber Gott, nein!«, rief er, als der Kellner ihm ein zweites Glas Punsch einschenkte.
»Una problema, signore?«, fragte der Kellner.
»Eine Lawine«, antwortete Odell.
13
George hörte das unverwechselbare Dröhnen hinter sich, doch ihm blieb keine Zeit mehr, sich umzudrehen.
Der Schnee erfasste ihn wie eine gigantische Woge, die alles, was vor ihr war, mitriss. Verzweifelt versuchte er, den Kopf oben zu behalten, und machte kräftige Schwimmbewegungen mit den Armen, in der Hoffnung, eine Luftblase vor seinem Gesicht freizuhalten, damit er etwas Zeit gewann, genau wie die Sicherheitshandbücher es empfahlen. Doch als die zweite Welle ihn traf, wusste er, dass er sterben würde. Die dritte und letzte Woge schleuderte ihn herum wie einen losen Kiesel, tiefer und immer tiefer.
Seine letzten Gedanken galten seiner Mutter, der stets vor diesem Moment gegraut hatte, dann seinem Vater, der niemals davon gesprochen hatte, und schließlich seinen Geschwistern, die ihn alle überleben würden. War dies die Hölle? Und dann kam er unvermittelt zum Halt. Einen Moment lang lag er ganz still und versuchte sich davon zu überzeugen, dass er immer noch am Leben war, und um seine unmittelbare Umgebung in sich aufzunehmen. Er war auf dem Boden einer Gletscherspalte gelandet, in einer Alladin’schen Eishöhle, deren Schönheit er unter anderen Umständen wohl zu schätzen gewusst hätte. Was riet das Handbuch in solch einem Fall? Rasch herausfinden, wo oben und wo unten war, so dass man zumindest anfangen konnte, sich in die richtige Richtung vorzuarbeiten. Zehn, vielleicht zwölf Meter über sich entdeckte er einen trüben, grauen Lichtfleck.
Er rief sich die nächste Anweisung des Handbuchs ins Gedächtnis: herausfinden, ob man sich irgendetwas gebrochen hatte. Er wackelte mit den Fingern und dem Daumen der rechten Hand, alle fünf Gliedmaßen waren noch da. Seine linke Hand war sehr kalt, aber zumindest konnte er sie ebenfalls bewegen. Er streckte das recht Bein und hob es vorsichtig vom Boden. Er hatte ein Bein. Er hob das linke – zwei. Er setzte seine Hände seitlich auf und drückte sich langsam, ganz langsam hoch. Seine Finger begannen zu frieren. Er hielt nach seinen Handschuhen Ausschau, doch sie waren nirgends zu sehen. Er musste sie während des Sturzes verloren haben.
Die Höhlenwände waren auf jeder Seite mit Eisvorsprüngen durchzogen, die mehrere natürliche Leitern zum Dach bildeten. Aber waren sie auch sicher genug? Er kroch durch den weichen Schnee zur anderen Seite seines Gefängnisses und trat mit der Spitze seines genagelten Stiefels gegen die Wand. Er hinterließ nicht den geringsten Eindruck. Das Eis hatte hundert Jahre, vielleicht sogar noch länger, gebraucht, um zu dieser Dicke anzuwachsen, und würde sich nicht so einfach vom Fleck
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