Berg der Legenden
rühren. Georges Zuversicht wuchs ein klein wenig, doch er ermahnte sich, nach den Regeln vorzugehen, nicht zu hetzen und keine unnötigen Risiken einzugehen. Er verbrachte einige Zeit damit herauszufinden, welche Stufen der Leiter er erklimmen sollte. Anscheinend befand sich die beste Route auf der anderen Seite der Höhle, also kroch er auf allen vieren wieder zurück und griff nach der untersten Stufe. Er betete. Wenn man in Gefahr war, musste man daran glauben, dass es einen Gott gab.
Vorsichtig setzte er den Fuß auf den Eissims ein paar Zentimeter über dem Boden, dann packte er einen anderen mit bloßen Fingern, die mittlerweile taub vor Kälte waren, und zog sich langsam hoch. Er riskierte es, sein gesamtes Gewicht auf den unteren Sims zu verlagern, denn falls dieser abbrach, würde es nur ein kurzer Sturz in den weichen Schnee werden. Doch es brach nichts, was ihn zuversichtlich die nächste Stufe der Jakobsleiter erklimmen ließ, um herauszufinden, ob er sich zu den Engeln oder seinen Mitmenschen gesellen würde.
Er hatte etwa die Hälfte geschafft, seine Zuversicht wuchs mit jeder Bewegung, als ein Stück Eis unter seiner Hand abbrach. Sofort glitten seine Füße von den Eisvorsprüngen ab, bis er nur noch an einer Hand baumelte, etwa zehn Meter über dem Boden. George begann, in einer Gletscherspalte, in der mindestens vierzig Grad minus herrschen mussten, zu schwitzen. Er schwang langsam vor und zurück, überzeugt, dass die Götter über ihm schlicht beschlossen hatten, sein Leben ein paar Sekunden zu verlängern, und dass das Eis, an das er sich klammerte, jeden Augenblick abbrechen würde. Dann fand er mit einem Fuß festen Halt, dann mit dem anderen. Er hielt den Atem an, die Finger seiner rechten Hand klebten beinahe an dem Eis über ihm. Seine Kräfte begannen zu schwinden, doch er ließ sich Zeit, um die nächste Stufe der Leiter auszuwählen. Nur noch drei Stufen, dann würde er sich durch den Lichtspalt schieben können. Vorsichtig nahm er die nächste Stufe, dann die zweite, und schließlich konnte er die Faust durch die kleine Spalte über sich stecken. Er hätte beinahe gejubelt, aber er durfte keine Zeit vergeuden, da die letzten Strahlen des Sonnenlichts rasch hinter dem höchstem Gipfel verschwanden.
George steckte den Kopf durch das Loch und blickte vorsichtig nach links und rechts. Er brauchte kein Handbuch, um zu wissen, dass es sinnvoll war, den Schnee um sich herum wegzuwischen, wenn er ein Stück Felsen oder eine Stelle mit festem Schnee finden wollte.
Mit den bloßen Händen schaufelte er den Schnee fort, bis er eine Felsplatte freigelegt hatte, die erst von der Lawine verschüttet worden war. Er sammelte alle Kraft, die ihm geblieben war, zog sich aus der Spalte und hielt sich an der Felskante fest. Er vergeudete keine Zeit, sondern kroch, gleich einer Krabbe, über die Platte, voller Angst, er könnte auf dem vereisten Fels zurückrutschen und erneut auf dem Grund der Gletscherspalte landen.
In diesem Moment hörte er jemanden »Waltzing Matilda« singen. Unschwer zu erraten, wer der Solist war. George setzte seinen mühsamen Weg über den Schnee fort, bis der Sänger Gestalt annahm. Finch saß kerzengerade und wiederholte unablässig den Refrain. Offensichtlich kannte er die zweite Strophe des bekanntesten australischen Volksliedes nicht.
»Sind Sie das, George?«, schrie Finch laut und spähte durch den fallenden Schnee.
Es war das erste Mal, dass Finch ihn mit Vornamen ansprach. »Ja, ich bin’s«, rief George, während er an seine Seite kroch. »Sind Sie verletzt?«
»Mir geht’s gut«, sagte Finch. »Bis auf ein gebrochenes Bein und die Tatsache, dass mir links langsam die Zehen abfrieren. Ich muss irgendwo unterwegs einen Stiefel verloren haben. Was ist mit Ihnen?«
»Es ging mir nie besser, altes Haus«, sagte George.
»Verdammte Engländer«, sagte Finch. »Wenn wir auch nur irgendeine Chance haben wollen, hier rauszukommen, müssen Sie meine Fackel finden.«
»Wo soll ich anfangen zu suchen?«
»Zuletzt habe ich sie ein Stück höher am Berg gesehen.«
George brach auf, wie ein Krabbelkind auf allen vieren. Er war schon der Verzweiflung nahe, als er wenige Meter vor sich etwas Schwarzes im Schnee entdeckte. Er jubelte. Dann fluchte er. Es war lediglich Finchs vermisster Stiefel. Er kämpfte sich weiter, bis er erneut jubeln konnte, als er den Griff der aus dem Schnee ragenden Fackel erkannte. Er packte sie und betete noch einmal, ehe er ein Streichholz
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