Berge versetzen - das Credo eines Grenzgängers
verinnerlicht, dass ich jetzt den ganzen Weg gehen musste. Zwei Jahre lang hatte ich die Idee als Tagtraum mit mir herumgetragen, sodass ich nun nicht anders konnte, als weiterzumachen. Die eindeutige Identifikation mit meinem Ziel, meiner Idee führte nach oben.
Die Schneeverhältnisse am Nordgrat des Mount Everest wurden schwieriger. Am zweiten Klettertag konnte ich nur 400 Höhenmeter schaffen. Auch weil ich die Nordflanke querte. Viel zu langsam ging es voran. Zweifel kamen auf. Zudem verschlechterte sich das Wetter. Trotzdem erreichte ich am dritten Tag über Steilstufen und Rinnen, zuerst nach rechts hin, dann über Schneefelder nach links, den höchsten Punkt. Mit letzter Kraft. Es war spät, und ich war so kaputt, dass ich mich weder umschaute, noch viel fotografierte oder nachdachte. Ich saà nur da und rastete. Ich hatte alles vergessen, vergaà sogar, wo ich war.
Nach einer Stunde hatte ich genügend Kraft, um wenigstens aufzustehen für den Abstieg. Zwei Tage später war ich im Basislager zurück. Erst unten packten mich starke Emotionen. Es war nicht die Freude, den Mount Everest im Allein-gang bestiegen zu haben. Es war das Erlebnis, ins Leben zurückzufinden â zu den anderen Menschen, zu den ersten Pflanzen, zu den Insekten, zum flieÃenden Wasser. All dieses Lebendige hatte ich oben nicht vermisst. Die schier grenzenlose Lebensfeindlichkeit, in der ich mich fünf Tage gegen Wahnsinn und Verzweiflung gewehrt hatte, wurde mir erst jetzt richtig bewusst.
Ich war fünf Tage lang mit mir allein gewesen, in einer völlig toten, kalten Umwelt. Es war immer anstrengend, immer bedrohlich, oft zum Verzweifeln. Ich schlief dort oben wie ein Vogel: ständig wach und bereit, aufzubrechen, immer auf der Hut. Trotzdem war es das Zurückkommen in die belebte Welt, das mich erschütterte. Obwohl ich müde war wie nie zuvor in meinem Leben. Ein Mehr an Anstrengung, an Lebensfeindlichkeit und Alleinsein hätte ich nicht ertragen können.
Wenige Jahre später, 1986, stand ich auf dem Gipfel des Lhotse, der dem Mount Everest im Süden vorgelagert ist. Es war mein vierzehnter Achttausender. Einige der 14 höchsten Berge auf dieser Erde hatte ich zweimal bestiegen. Vortragsanfragen und Werbeangebote häuften sich. Ich hätte praktisch ein Leben lang von diesen Erfolgen in den Bergen zehren können. Von meinen gestrigen Erfolgen aber konnte ich seelisch nicht leben. Geleistetes, Gelungenes ist es nicht, was mich ausfüllt. Das Gestern gehört zu meiner Biografie. Fehler genauso wie Erfolge. Ich verstehe mich aber als kreativen Menschen, der sich ausdrücken will, der weitergehen muss, der immer neue Ansprüche an sich stellt.
Also nahm ich â zuerst im Geiste, dann in der Praxis â ein Projekt in Angriff, das mich noch einmal ganz fordern sollte: die Antarktis-Durchquerung auf Skiern. Wohl wissend, dass die extremen Bedingungen bei dieser Reise nicht fünf Tage wie am Mount Everest, sondern 100 Tage dauern würden, bereitete ich mich drei Jahre lang vor. Für eine Gegend, die allerorts lebensabweisender ist als der Himalaja im Gipfelbereich und weiter weg von der Zivilisation als das Herz der Takla-Makan-Wüste in China: nie flieÃendes Wasser, nirgendwo Tiere, nirgendwo Menschen. Ich brauchte von alldem eine Vorstellung.
Die Antarktis war vor gut 200 Jahren entdeckt worden, in diesem Jahrhundert näher erforscht. 1986 reiste ich zum höchsten Berg der Antarktis, dem Mount Vinson. Klettertechnisch war der Aufstieg kein Problem, aber es war kalt: â50 °C. Dazu kamen Stürme. Mehr als alles andere beeindruckte mich der Blick vom Gipfel. Eine Weite, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Und diese Stille! Nach der Besteigung, am FuÃe des Berges, fasste ich den Entschluss, den antarktischen Kontinent zu Fuà zu durchqueren. Ich packte im Basislager probeweise einen Schlitten. Zuerst mit 80, dann mit 120 Kilo Gewicht. Ich schleppte ihn, auf Skiern laufend, eine Stunde weit. Dabei schaffte ich knapp 4 Kilometer. Wenn ich nun diese 4 Laufkilometer mit 8 Marschstunden pro Tag hochrechnete, ergab das 30 Kilometer Tagesleistung. Und wenn ich die 30 Kilometer mit 100 Tagen multiplizierte, kamen â Rasttage abgerechnet â 2800 Kilometer heraus: die Länge, die einer Antarktis-Durchquerung entspricht.
Amundsen hatte den Südpol 1911 als Erster erreicht. Mit Hundeschlitten. Sir Vivian Fuchs führte in den
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