Berge versetzen - das Credo eines Grenzgängers
Durchhaltevermögen entscheiden, ob wir durchkommen, sondern die Umwandlung dessen, was um uns ist: Schnee, Kälte, Wind, Wolken.
Wir sehen keine Formen mehr, weder vertraute noch unvertraute. Seit einer Woche keine gewohnten Bilder. Nichts, womit ich mich identifizieren könnte. Wenn nichts mehr bekannt ist, womit sollte meine gewohnte Bilderwelt übereinstimmen?
Wie sich unser Blick im Nebel verliert, verlieren sich Gewissheiten. Ich kann mir den Weg nach Isartok anschaulich machen, eine Marschskizze nach der Karte zeichnen. Das alles aber entspricht nicht der Realität. Wir wissen alles und nichts über unsere Lage.
Wir schaufeln Schnee, holen Wasser, fotografieren. In unserer winzigen Welt, etwa 30 Quadratmeter rund um das Zelt, ist alles wie sonst. Dahinter das Nichts. Warum spielen wir uns Zuversicht vor?
Wenn selbst die Hoffnung sich ins Ungewisse verliert, ist weder nach vorne noch nach hinten ein Puzzle projizierbar. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als abzuwarten. Vielleicht lässt sich unsere Miniwelt später stückchenweise weiterschieben. Von Lagerplatz zu Lagerplatz, von Eiskuppe zu Moränenhügel. Nicht einen gedachten Weg gehen wird unsere Rettung sein, wenn das Wetter so bleibt, sondern das Gehen selbst.
Nur Hindernisse erlauben im Nichts eine Orientierung. Wir können uns eine Nacht, eine Rastpause lang an ihnen festhalten, dann einen neuen unsichtbaren Punkt anpeilen. Dieses Weiterkommen ist wie der Anfang von Leben.
27.1.1992
Wir gehen los. Im tiefen Schnee. Wir kommen unendlich langsam voran. Der Schnee könnte schlimmer nicht sein (Pulver, Harsch bis zu den Knien). Es geht ständig auf und ab. Hin und wieder ist es bewölkt, und wir sehen absolut nichts â keine Gräben, keine Wandgangeln, keine Wechsel im Schatten.
Herrliche Lichtstimmungen am Nachmittag. Der Himmel ist vom Meer (Sonne) zum Inlandeis hin von Infrarot bis Ultraviolett gefärbt. Eindrucksvoll auch der Rand des Eises, das senkrecht in einen zugefrorenen See abbricht.
Wir lagern an einem langen See, kochen. Plötzlich Nordlicht. Wie blaue Schleier hängen Lichtzungen vom Himmel. Es ist gut, in Dorfnähe zu sein.
28.1.1992
Später Aufbruch. Der Himmel ist bewölkt. Kaum Licht. Die Schneekruste bricht unter den Skiern. Langsam nähern wir uns Isartok.
Plötzlich entdecken wir weit rechts von uns einen Hundeschlitten. Sieben Hunde, zwei junge dazu, und ein Jäger ziehen langsam heimwärts. Wir dürfen unsere Schlitten anhängen, gehen gemütlich hinter dem Gespann her.
Wind aus Ost, dichtes Schneetreiben. Isartok sehen wir erst 100 Meter vor den ersten Hütten.
In der Schule des Dorfes (150 Menschen) finden wir Unterschlupf, schwitzen eine Nacht lang in den überheizten Räumen.
29.1.1992
Nach einer unruhigen Nacht in der Schule (zu warm und drauÃen Sturm) packen wir unsere Sachen in eine Ecke, ziehen ins Lehrerhaus um. Langes Frühstück. Diskussion über Materialien und Ausrüstung. Ein neuer Winterversuch wird andiskutiert. Wie und wann soll vorerst offen bleiben.
Mein Bemühen um ein weiteres Permit, Grönland im Winter zu durchqueren, wird vom Polar Institute abgelehnt. Wegen der groÃen Gefahren während der arktischen Nacht. Auch nach der gelungenen Längsdiagonale (1993) zusammen mit meinem Bruder Dr. Hubert Messner wird mir und allen anderen Anwärtern eine Winterexpedition auf dem Inlandeis verboten. Der vorgebliche Winterversuch 1995 von R. Peroni darf als Werbegag verstanden werden.
»Mein Weg basiert auf Versuch und Irrtumsbeseitigung.«
Scheitern als Lernprozess
I n einer ausweglosen Situation, wie beim Rückzug aus dem winterlichen Grön-land, entstehen Zweifel. Zweifel am Sinn eines solchen Unternehmens, Zweifel am eigenen Können, Zweifel am Leben. Gleichzeitig aber kommen neue Ideen, klare Erkenntnisse. So kam mir in Isartok die Idee, dass die Grönland-Durchquerung von Süden nach Norden, die ich für den Sommer 1993 geplant hatte, als Diagonale von Südosten nach Nordwesten spannender und eleganter ist als der ursprüngliche Plan, vom äuÃersten Südzipfel bis nach Thule zu laufen.
Um im Süden aufs Eis zu kommen, hätte ich Helfer gebraucht. Wochenlang hätten wir die schwere Ausrüstung über aperes Gelände bis zum Eisrand schleppen oder â einfacher, aber nicht nach meinem Geschmack â einen Hubschrauber für diese felsige Anfangsstrecke einsetzen
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