Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Berge versetzen - das Credo eines Grenzgängers

Berge versetzen - das Credo eines Grenzgängers

Titel: Berge versetzen - das Credo eines Grenzgängers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: BLV Buchverlag GmbH & Co. KG
Vom Netzwerk:
müssen. Im Südosten von Grönland gibt es nicht nur Hunde, das Eis reicht dort bis zu den Dörfern, bis zum Wasser. Also konnte ich in Isartok besser als irgendwo sonst am Meer beginnen, diagonal über Grönland laufen, um dann im Norden am Meer aufzuhören. So ist im Eis, beim Scheitern im Winter, die Idee der »Grönland-Längsdiagonale« entstanden.
    Klingt es für Laien in Sachen Grenzgang unglaubwürdig, wenn einer, der nicht mehr ein noch aus weiß, der mit seinen Grenzen konfrontiert ist, am Rande eines Abgrunds steht, im Geiste bereits mit neuen, vielleicht noch kühneren Ideen herumspielt? Mir geht es oft so: Statt über das endgültige Aufgeben meiner Grenzgänge nachzudenken, entwerfe ich neue. Immer wieder. Und ich bin nicht der einzige Abenteurer, der so reagiert. Die Frage, ob wir unsere Welt nicht immer neu erfinden müssten, taucht vorwiegend beim Scheitern auf.
    Sir Ernest Shackleton, nach meinem Dafürhalten der kühnste Eisfahrer dieses Jahrhunderts, ist zu immer neuen Ideen gekommen, weil er immer wieder gescheitert ist. Er hat keines seiner Projekte mit Erfolg zu Ende geführt. Er ist immer gescheitert. Seine Erfahrungen aber haben ihn sukzessive zu immer kühneren Schritten im Grenzgang beflügelt. Am Beginn des Jahrhunderts ist Shackleton zusammen mit Scott und Dr. Wilson ein gutes Stück über das Ross-Schelfeis Richtung Südpol marschiert. Sie sind nicht allzu weit gekommen, bis knapp vor Gateway. Dabei haben sie den Zugang zum antarktischen Hochplateau geahnt. Beim Rückmarsch erlebten sie dramatische Momente.
    Obwohl Scott Shackleton für eine weitere Expedition als »zu schwach« abschob, hat dieser eigenwillige Ire wenige Jahre später ein eigenes Unternehmen auf die Beine gestellt: den Fußmarsch zum Südpol. Mit drei Freunden stieß er, über Gateway und den Beardmoregletscher aufsteigend, weit in das Innere der Antarktis vor. Sie kamen bis knapp vor den Südpol. Erkennend, dass Zeit, Brennstoff und Nahrungsmittel nicht ausreichten, um zum Südpol zu gelangen, kehrte Shackleton um. Der Rückzug wurde zu einem Wettlauf mit dem Tod.
    Trotzdem ist Shackleton 1914 wiedergekommen. Vom Weddellmeer aus wollte er die Antarktis überqueren. Über den Südpol. Amundsen und Scott hatten den Südpol inzwischen erreicht. Shackleton wollte einen Schritt weiter gehen. Er wagte »den letzten Trip auf Erden«. Bei dieser Expedition ist er gleich zu Anfang gescheitert, die Selbstrettung aber dauerte Jahre. Shackleton hat mit seiner Mannschaft alles durchgemacht, was Menschen aushalten können. Wenn zu guter Letzt alle nach Hause kamen, obwohl ihr Schiff, die »Endurance«, von den Eisbergen zerdrückt worden war wie eine Nussschale, dann nur, weil Shackletons Führertalent und der Zusammenhalt der Mannschaft mit der Not gewachsen waren.
    Shackleton hatte immer noch nicht genug. In den Zwanzigerjahren reiste er ein viertes Mal in die Antarktis. Am Eisrand ist er gestorben. An Herzversagen. Ohne einen weiteren Versuch unternehmen zu können, in das Innere des »siebten Kontinents« vorzudringen.
    Das Ausgesetztsein mobilisiert Kräfte in uns, die wir vorher nicht gekannt haben. Und im Scheitern ist das Ausgesetztsein oft gesteigert. Oft regt es zu neuen Kombinationen in der Lösung von Problemen an. Plötzlich ist etwas Nichtfür-möglich-Gehaltenes möglich. Auch deshalb beim Rückzug kaum Angst zu versagen. Die Angst vor dem Versagen war bei meinen Expeditionen hauptsächlich vor dem Start da. Nie beim Rückzug. Auch nicht unmittelbar nach dem Scheitern. Natürlich war mir jedes Mal klar, wenn ich aus einer Wand abseilte, ohne den Gipfel erreicht zu haben, dass ich »verloren« hatte. Auch in Grönland, als ich am Beginn der Winterdurchquerung im vielen Neuschnee stecken blieb, kam das einem Imageverlust gleich. Aber das belastete mich nicht.
    Das Image bedeutet mir weniger als die gewonnene Erfahrung. Und Erfahrung wächst uns gerade beim Scheitern zu. Die wiederholte Erkenntnis, begrenzt zu sein, vor allem den Naturkräften gegenüber, ist wichtig. Erfahrungen beim Grenzgang wären nicht möglich, wenn ich nicht begrenzt wäre. Begrenzt in meiner Energie, begrenzt in meiner Kraft, begrenzt in meinem Mut, begrenzt auch in meiner Erfahrung.
    Weil ich begrenzt bin, sind Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit der wilden Natur möglich. Deshalb auch nie

Weitere Kostenlose Bücher