Berge versetzen - das Credo eines Grenzgängers
jemals noch trocknen können. Wir sind viel zu langsam.
23.1.1992
Nach einer kalten und schlechten Nacht starten wir frühzeitig. Schönes Wetter, der Horizont violett. Temperatur â38 °C.
Bald erkennen wir die Grenzen unserer Leistungsfähigkeit. Wir kommen im trockenen, frisch verfrachteten Schnee so langsam voran, dass wir keine Chance sehen, die Durchquerung in 35 Tagen zu schaffen. Dazu die eisigen Schlafsäcke, das vereiste Zelt alle Tage.
Einstimmig beschlieÃen wir aufzugeben (65° 56â N, 39° 50â W). Wir wollen es nicht bis an die äuÃerste Grenze treiben und uns retten lassen.
Noch kommen wir problemlos zurück. Wir sind etwa 1800 Meter hoch. Allerdings ist der Schnee so schlecht, dass auch der Abstieg zur Schinderei wird.
Wind von Nord. Wir versuchen zu segeln. Mit geringem Erfolg. Also laufen wir. Herrliche Lichtstimmungen: violett, ultraviolett der Himmel über der Horizontlinie. Die vielen Bergspitzen weit im Osten sind blau.
Alles ist eingefroren â Kameras, Töpfe, Kocher, sogar der Cognac.
So schön dieser Trip im Sommer sein muss, im Winter ist er ein Leidensweg: Kälte, Dunkelheit, Feuchtigkeit, Schinderei.
Langsam nur kommen wir im Sturm, später im Peterak voran. Dann laufen wir falsch, geraten in einen Eisbruch, sind ein verlorener, verzweifelter Haufen. Allen sind die Wangen angefroren. Weiter!
Obwohl der Rückmarsch zum Ãberlebenskampf geworden ist, bleibt es faszinierend, den Schneewehen zuzusehen, die über die Gletscherbrüche schlagen. Wie die Wellen eines reiÃenden Gebirgsflusses. Das Schneetreiben im Gegenlicht ist wie ein Vorhang, und die Sastrugis â gestern erst gebildet â sind mit wenig Fantasie belebbar. Sie lachen nicht über unser Scheitern.
Wir gehen mit und ohne Skier. Odd fällt in eine Spalte. Bis wir uns entscheiden, ein Gletschertal abwärtszufahren, vergeht Lebensgefahr.
Auf einer Rippe am FuÃe des Gletschers schlagen wir das Lager auf. Wir sind zu weit rechts und so weit von Isartok entfernt, dass wir mindestens noch zwei Tage bis dorthin brauchen.
Irgendwo im Eisbruch, im Schneesturm, habe ich meinen Kompass verloren (Kugelkompass, der mich durch die gesamte Antarktis geleitet hat).
25.1.1992
Trotz White-out gehen wir los. In vielen Bögen, im ständigen Auf und Ab durchqueren wir Eisbrüche und Täler. Wir erreichen die ersten Felsen am Rande des Inlandeises. Dichtes Schneetreiben.
Orientierung unmöglich. Bleiben ist die einzige Lösung. Nachdem wir in einer windgeschützten Mulde einen Lagerplatz eingeebnet haben, schneit es weniger. Also weiter! Es geht sehr steil bergan. Warum? Und wieder der Sturm im Gesicht. Wir geben auf, gehen zurück.
Stürze in Eisgräben. Mit Mühe finden wir den hergerichteten Lagerplatz. Zu viel Schinderei für ein paar Kilometer! Wenn sich das Wetter nicht bessert, wird dieser Rückmarsch gefährlich. Dramatisch ist er schon.
Wir lagern an einem kleinen See. Das Wasser wird in einem 50 Zentimeter tiefen Loch an die Oberfläche gedrückt. Wir können uns nicht einigen auf »Abwarten« oder »Stück für Stück vorwärtstasten â zurück«. Wir warten auf klaren Himmel.
Leben auf dem Lande, im Nirgendwo. Wir sind nicht weit von Isartok entfernt, trotzdem eine Unendlichkeit, wenn nichts zu sehen ist in den wenigen grauen Stunden des Tages.
26.1.1992
Es stürmt und schneit die ganze Nacht hindurch. Vor dem Zelt, im Windschatten, türmt sich ein Meter Neuschnee. Wir sind eingeschneit! Als wir trotzdem losgehen wollen, erkennen wir die ganze Tragweite des neuen Schlechtwettereinbruchs: Wir sind eingesperrt!
Es liegt so viel Schnee, dass wir nicht von der Stelle kommen. Dazu White-out. Schneetreiben. Es ist relativ warm.
Wir müssen uns neu orientieren. Ich meine das nicht geografisch. Wo wir sind, ist kein Ort. Es sieht zufällig und momentan so aus, wie wir die Gegend sehen. Sie ist nicht in Beziehung zu bringen zu anderen Orten, die wir kennen, oder zu Isartok, wo wir hinwollen. Ãber Land kommen wir nicht weiter. Wir müssen zurück aufs Eis. Das Inlandeis ist wie das offene Meer auf einem anderen Stern. Dort sind Orientierung und Gelände leichter, weil der Boden sich nur geringfügig ändert.
Am Rande entspricht die Landschaft nicht mehr der Landkarte. Sie ist einem Prozess unterworfen. Von ihm hängt unser Ãberleben ab. Nicht mehr Wille und
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