Berger, Fabian
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Der schrill summende Motor durchbrach die Stille, die den Raum ausgefüllt hatte. Der fein gezackte Rand der rotierenden Scheibe drang mühelos durch den harten Schädelknochen und fuhr, einer unsichtbaren Linie folgend, einmal um den gesamten Kopf. Behutsam nahm Tornsen die Schale beiseite und starrte in das nun offenliegende Haupt. Ein erster Blick bestätigte seine Vermutung.
»Schauen Sie sich das einmal an, Lück! Was fällt Ihnen auf?« Tornsen kreiste mit seinem Finger um eine bestimmte Stelle.
»Es sieht so aus, als ob da was fehlt«, antwortete Lück unsicher und hoffte sich nicht geirrt zu haben. Vorsichtshalber überprüfte er seine These mit einem weiteren Blick. »Doch, ich bin mir absolut sicher.« Er deutete auf einzelne Schnittkanten, die seine Ahnung untermauerten.
»Ganz genau!«, pflichtete Tornsen ihm bei. »Das ist merkwürdig!« Er suchte nach einer einleuchtenden Erklärung für das, was er dort sah. Schließlich nahm er den Leichnam noch einmal ganz genau in Augenschein.
Lück schien verwirrt. »Was tun Sie denn da?«
Doch Tornsen war zu tief in seiner Arbeit versunken, als dass er seinem Assistenten hätte antworten können. Plötzlich blieb sein Blick an einer winzigen Stelle haften. Er zog die Lupe heran und betrachtete das Mal eingehend. Das Band seines in Plastik gehüllten Diktiergerätes begann zu laufen.
»Kleine Einstichstelle im seitlichen Halsbereich, umgeben von einem centgroßen und blaurot verfärbten Hämatom.« Er hielt kurz inne, während das Band weiterlief. Sekundenlang fixierte er die winzige Stelle aus mehreren Perspektiven. Dann wandte er sich seinem Assistenten zu.
»Führen Sie eine toxikologische Untersuchung durch. Und beeilen Sie sich! Jede Minute zählt.«
-11-
H annah hatte sich in die Dunkelheit ihrer Wohnung zurückgezogen. Die Rollläden bis zum Anschlag herabgelassen, saß sie vollkommen in sich gekehrt auf dem Sofa. Mehrere Fotos, auf denen sie mit Erik zu sehen war, lagen wild verstreut auf dem schmalen Tisch. Verzweifelt versuchte sie, die Tränen zu unterdrücken. Doch je länger sie auf die Bilder starrte, desto schmerzhafter wurde die Erinnerung. Sein plötzlicher Tod erschien ihr genauso unwirklich, wie ihr kurzes gemeinsames Leben. Unaufhaltsam strömten ihr die Tränen über die Wangen. Auf der Suche nach einem Taschentuch tapste sie in die Küche. Sie zog ein Krepp von der Rolle oberhalb der Spüle und putzte sich die Nase. Das schmutzige Geschirr stapelte sich bereits zu einem übel riechenden Turm, doch sie schenkte dem keinerlei Beachtung. Sie griff nach dem letzten sauberen Glas in der hintersten Ecke des Hängeschranks und füllte es bis zum Rand mit Rotwein. Dabei leerte sie die Flasche bis auf den letzten Tropfen und ging mit dem Glas in der Hand zurück ins Wohnzimmer. Kurz bevor sie das Sofa erreichte, stieß sie gegen die Fotokiste, die offen neben dem Sitzmöbel auf dem Fußboden lag. Sie stolperte. Der Wein schwappte über den Rand auf die ausgebreiteten Fotos. Wie gelähmt stand Hannah da und verfolgte den Weg der roten Flüssigkeit, die wie in Zeitlupe dahinfloss. Voller Entsetzen versuchte sie den Schaden zu begrenzen und wusch mit dem benutzten Papiertuch über die rot verschmierten Bilder. Doch es half nichts. Die dünne Pappe hatte sich bereits vollgesogen, und die Gesichter begannen, sich zu wellen. Je energischer sie über die Beschichtung rieb, desto größeren Schaden richtete sie an. Die Konturen der abgebildeten Personen verschwammen in der Pfütze und lösten sich in ihr auf. Mehrere Fotos waren komplett zerstört. Als Hannah erkannte, was sie angerichtet hatte, setzte sie sich resigniert auf den Boden und ließ erschöpft die Schultern hängen. Fortwährend starrte sie auf ihr Missgeschick, bis ihre Verzweiflung zu unbändiger Wut umschlug. Sie griff nach den restlichen Bildern und riss jedes einzelne in Stücke. Ihr Zorn schraubte sich weiter empor. Als es ihr in ihrem Zerstörungswahn nicht schnell genug ging, sprang sie auf und fegte mit den Armen über die Tischplatte. Die Erschütterung brachte die Stehlampe zum Kippen und der Schirm zerschellte auf dem Dielenboden. Nur langsam kam sie wieder zu sich und sie versuchte sich zu beruhigen. Sie erinnerte sich, wie sie vor etwa einem Monat, nachdem sie die Bilder in einer Drogeriekette hatte entwickeln lassen, die Speicherkarte ihrer Digitalkamera geleert hatte. Um Platz zu schaffen. Für etwas Neues, etwas vermeintlich Wichtiges. Und nun, während eines
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