Berger, Frederik - Die Geliebte des Papstes
Himmel. Silvia wollte noch einmal Gottes nächtliche Zeichenschrift sehen. Der Astrologe starrte auf Zahlenreihen und seltsame Figuren, auf Kreise und Dreiecke, die er selbst gezeichnet hatte. Aber all diese Zeichen sollten ja nur etwas abbilden, was aus der Schwärze über ihr heraustrat, kleine leuchtende Punkte, manche davon blinkend, andere starr wie tote Augen. In der Milchstraße fanden sich Myriaden kleiner Glühwürmchen zusammen, vielleicht die Seelen all der zu früh verstorbenen Kinder, die Kerzen, welche die Engel trugen. Silvia mußte an den kleinen Sandro denken, ohne den ihr Leben hier im Hause jeglichen Sinn verloren hätte. Sandro erfreute sie jeden Tag mit seinem Lächeln, ihr kleiner Bruder – der ihr wie ein eigenes Kind ans Herz gewachsen war. Daß sich sein Gesicht verzerrt hatte, wollte sie endgültig vergessen.
Silvia legte sich auf den Boden, der noch vom Tag her Wärme ausstrahlte, und schaute mit ausgestreckten Armen in den Himmel. Sie wollte das Ave Maria sprechen, aber schon nach ein paar Worten verstummte sie. Auch das inwendige Sprechen ging unter in einer Umarmung durch diese Himmelswölbung, die vor ihrem Blick zurückwich und sich gleichzeitig auf sie herabsenkte wie ein unsichtbarer Körper, der in sie eindrang, sie durchdrang, sie auflöste in einen der vielen flimmernden Sterne. Der Himmel schien sie aufzusaugen. Silvia spürte die Grenzen ihres Körpers nicht mehr, sie wußte nicht, ob sie mit geöffneten Augen nach oben schaute oder ob das Band der Milchstraße unter den geschlossenen Lidern sich bildete, ob sie schwebte oder fiel. Vielleicht lebte sie nicht mehr. Oder sie erfuhr nun, wie es war, wenn die unsterbliche Seele den Körper verließ. Ja, dies mußte das Gefühl sein, wenn der Todeskampf nachließ, wenn die Schmerzen schwanden, die Sinne sich verdunkelten.
Silvia versuchte, die Lippen zu bewegen. Rosa mystica , hörte sie, domus aurea , janua caeli . Du geheimnisvolle Rose, du goldenes Haus, du Pforte des Himmels. Und Maria schien aus dem Schleier der Milchstraße herauszutreten, Maria mit dem Jesusknaben an der Brust. Sie beugte sich zu ihm, aber nun lag er auf ihrem Schoß, und es war auch kein Knabe mehr, sondern ein ausgewachsener Mann, ein Toter, den sie beweinte.
22. K APITEL
Alessandro wußte nicht mehr, wie viele Männer er getötet hatte. Nun weilte er schon über ein Jahr in Florenz, und es war ein aufregendes, erfülltes, glückliches Jahr gewesen – aber daß er sich von Pico della Mirandola in solch ein blutiges Abenteuer hatte hineinziehen lassen, war nicht nur unvorsichtig von ihm gewesen, sondern auch in höchstem Maße unmoralisch. Alessandro fühlte sich bloßgestellt und schuldig, außerdem befürchtete er, ins Gefängnis gesteckt oder zumindest der Stadt verwiesen zu werden. Und es wäre ihm recht geschehen. Immer wieder sah er die Toten in ihrem Blute liegen, sah sich gehetzt um sein Leben reiten, und im Stakkato seines Herzschlags hörte er eine ferne, durchdringende Stimme das alttestamentarische Gebet sprechen: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib !
Lorenzo il Magnifico allerdings schob die Schuld auf den Anstifter der Aktion und sah in Alessandros Verhalten nur einen fehlgeleiteten Freundschaftsdienst. Was Lorenzo allerdings auch nicht dulden wollte, war die blutige Selbstjustiz des gehörnten Ehemannes. So führte er ein ernsthaftes Gespräch mit Pico über die Verlockungen der Liebe sowie den Wert menschlicher Unversehrtheit und gab gleichzeitig dem Ehemann als Entschädigung für die verlorene Ehre einen gutdotierten Posten in Arezzo. Anschließend erklärte er eine öffentliche Debatte über das Geschehene für unerwünscht. Trotzdem gab es in der Accademia einige, die nun verstärkt über ethische Fragen diskutieren wollten, über Laster wie Neid und Raffgier, Selbstüberheblichkeit und wollüstige Gier, nicht zuletzt über die Grenzen zwischen Selbstverteidigung und Totschlag.
Alessandro konnte die abstrakten Dispute kaum ertragen. Er zog sich häufig zurück und ritt, während der Frühling das Land mit einem bunten, duftenden Teppich überzog, das Tal des Arno flußaufwärts und dann hinein in die Wälder des Casentino. Und eines Tages pilgerte er sogar ganz allein bis nach La Verna, um die Hilfe des heiligen Franciscus anzurufen. Er wunderte sich, daß er nicht – wie damals Silvia und ihre Mutter – von Wegelagerern angegriffen wurde. Er kannte die Gefahr, in der er schwebte, aber sie kümmerte ihn nicht. Er konnte
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