Bergfriedhof
von Touristen knipsen und kippte plötzlich aus dem Bild. Kreislaufkollaps. Am nächsten Tag besuchten wir ihn im Krankenhaus. Er konnte nicht einmal Piep sagen. Dafür sagte der Arzt ihm einiges und es klang verdammt ernst. Seitdem hat er sich nie wieder überfressen. Und ging auf wie ein Hefeteig. Ein Ernährungswissenschaftler versuchte, es uns zu erklären: Durch den Zusammenbruch war in Friedhelms Stoffwechsel irgend etwas umgekippt, zerstört, und nun legte der Körper Fettpolster an für kommende harte Tage. Verstanden hat das keiner von uns. Aber wir erfanden bald einen Namen für seine Krankheit: das Tourmalet-Syndrom. Und ihn nannten wir Fatty.
Längst erweist er diesem Namen alle Ehre. 115 fröhliche Kilos auf knapp 1,80 m verteilt – das ist eine Kampfansage an den Schlankheitswahn unserer Tage. Sport treibt Fatty keinen, wie er sich überhaupt ungern bewegt, nur auf Diäten verlegt er sich alle sechs Monate, wenn es ihn überkommt. Sein Abendbrot besteht dann aus einem traurigen Stillleben: Knäckebrot, ein Scheibchen junger Gouda, Gurke, Stilles Wasser. Und dahinter, ein dickes Häuflein Elend, mein Freund Fatty. Erfolge zeitigen diese Fastenkuren natürlich nicht.
»Prost«, sagte ich und stieß mit ihm an.
»Schlecht ist er nicht, dein Wein. Bloß ... Wein. Alkohol.« Auch das Essen schien ihm zu schmecken, denn er verlor kein schlechtes Wort mehr über die gefüllten Dinger mit dem fiesen Fettzeug drumherum. »Okay, zurück zu deiner Geschichte. Wie war das? Der Alte über alle Berge, du halbblind und auf dem Bergfriedhof ein toter Mann ... Was hast du gemacht?«
»Was werde ich gemacht haben mit Augen voll Pfefferspray? Mich ins Bett gelegt und geheult wie ein Schlosshund.«
»Warst du nicht in der Lage, zurück zum Friedhof zu fahren und die Leiche zu untersuchen?«
»In dem Zustand? Nein, kein Gedanke. Aber auch sonst wäre es eine Überwindung gewesen, mitten in der Nacht den ganzen Weg bergauf noch einmal in Angriff zu nehmen. Als ich zu Hause ankam, habe ich den Wecker auf sechs Uhr gestellt ...«
»Und zwar sobald du wieder sehen konntest«, merkte Fatty unschuldig an.
»Korrekt. Sobald ich meine rasenden Schmerzen mit Morphium bekämpft hatte und die Welt wieder in Umrissen wahrnahm, stellte ich den Wecker, um heute möglichst früh auf dem Friedhof zu sein.«
»Sechs Uhr«, nickte Fatty. »Wusste gar nicht, dass dein Wecker so eine Zeit im Programm hat.«
»Der Wecker schon.«
»Du auch?«
»Frag nicht. Noch ein Auberginchen, der Herr?«
»Wenn es weg muss.«
»Muss.«
»Wann warst du vor Ort? Sieben? Halb acht?«
»Um Viertel nach acht.«
»So spät? Kurz vor Mittag?«
»Wie mans nimmt«, sagte ich düster. »Mir persönlich war nicht klar, wie viele wache Menschen sich um diese Uhrzeit in den Straßen herumtreiben.«
»Erzieher zum Beispiel. Wenn auch nicht am Samstag. Aber Viertel nach acht kann nur eines bedeuten: dass die Polizei längst alarmiert war und sie den Friedhof großräumig abgesperrt hatte.«
»Die Polizei? Nein.«
»Oder die Friedhofsverwaltung, was weiß ich.«
Ich schüttelte den Kopf.
»War die Leiche denn noch nicht entdeckt? Das glaube ich nicht.«
»Welche Leiche?«
»Wie, welche Leiche? Dein Toter auf dem Grab!«
»Das Grab war da.«
»Natürlich war es da!«
»Aber die Leiche nicht.«
»Was? Sie war weg?«
»Ja. Weg. Fort. Perdu. Keine Leiche mehr. Ich habe genauso blöd geschaut wie du jetzt.«
5
Die Tendenz zum Zweitrad wird immer stärker, sagt man. Ich besitze vier Räder, dafür kein Auto. In Heidelberg selbst kommt man ganz gut ohne aus, und für berufliche Fahrten ins Umland steht mir Fattys Mini immer zur Verfügung. Fatty selbst würde das eventuell etwas anders formulieren. Vier Fahrräder also, auch wenn sie abwechselnd kaputt sind: ein altes, unansehnliches Rennrad; ein grellrotes Mitbringsel vom Sperrmüll mit einer Teufelsgesichthupe; für schnelle Besorgungen ein Damenrad mit Korb; und ein schönes stabiles Tourenrad, das ich in der Stadt nie verwende. Momentan war das Damenrad platt, die Rennmaschine stand am Bergfriedhof, sodass für die morgendliche Fahrt dorthin nur Nummer zwei, die rote Mähre, infrage kam. Ich saß auf und fuhr los.
Geschlafen hatte ich gut. Erstaunlich gut sogar. Keine Alpträume, keine längeren Wachphasen. Bloß die Augen hatten geschmerzt, als ich um halb eins ins Bett gefallen war, und sie schmerzten beim Aufwachen immer noch. Dieses verdammte Pfefferspray! Die Lider waren
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