Bergfriedhof
geschwollen, die Wimpern verklebt, alles juckte. Ich legte mir zwei kalte Waschlappen auf die Augen, seufzte auf – und nickte noch einmal ein. Max Koller ist wirklich alles andere als dämmerungsaktiv.
Gegen sieben schreckte ich hoch. Helles Frühlingslicht fiel durch die offenen Vorhänge. Vertan die Chance, als Erster den Bergfriedhof zu betreten. Die Frühaufsteher unter den Senioren zupften bestimmt schon das Unkraut von den Gräbern, die Friedhofswärter würden ihre Runde drehen. Die Polizei war längst alarmiert, wenn auch nicht durch den Silberrücken. Der hatte sich nach einem stillen Gebet und einem maßvollen Schluck Asbach Uralt zur Ruhe gelegt, um schmunzelnd seiner Pfeffersprayattacke und des übertölpelten Privatdetektivs zu gedenken. Am nächsten Morgen würde er gemütlich frühstücken und während des Studiums der Börsenkurse auf eine ganz bestimmte Radiomeldung warten: Gegen sechs Uhr 30 fanden Wärter des Heidelberger Bergfriedhofs eine bislang unidentifizierte männliche Leiche ...
Ich ging ins Bad und wusch mir ausgiebig das Gesicht. Meine geröteten, geschwollenen Augen ließen sich nur halb öffnen: schmale Sehschlitze, durch die ich mich prüfend betrachtete. Ich war angeschlagen, übernächtigt und schlechter Laune. Am liebsten hätte ich mich wieder ins Bett gelegt, die Decke über den Kopf gezogen und von gefüllten Auberginen geträumt. Aber da war noch was.
Da war ein Mann mit weißen Haaren und Brille, ein Mann ohne Namen, der mich verachtete, weil ich nicht sein gesellschaftliches Niveau besaß. Der die Menschheit in Macher und Marionetten einteilte und mich, die Ermittlermarionette, einen ganzen Abend lang nach Gutdünken hatte herumtanzen lassen. Nur heute Morgen sollte ich nicht tanzen, da sollte ich brav im Bett liegen bleiben. Das war die Rolle, die er sich für mich ausgedacht hatte, und ich ertappte mich dabei, wie ich nach unten schielte, um die Fäden zu entdecken, an denen meine Marionettenglieder hingen.
So nicht, alter Mann. So nicht. Ich schüttelte mich, zog mir einen Pullover über und verließ meine Wohnung.
Um Viertel nach acht stellte ich die rote Mühle zu meinem Rennrad neben den Seiteneingang. Unten bollerten die Autos über das Kopfsteinpflaster der Rohrbacher Straße. Ich schwitzte, aber die frische Luft hatte meinen Augen gut getan.
Eine Weile stand ich nur da und lauschte. Es gab nichts Besonderes zu hören. Auch nicht zu sehen. Nur das Übliche: Fußgänger auf dem Weg in die Stadt, Kinder, die hinter offenen Fenstern spielten, ein Bus, der sich langsam an der Baustelle vorbeiquälte. In den Baumkronen des Bergfriedhofs sangen Vögel, irgendwo hustete jemand laut. Alles wie immer, alles normal, und das fand ich überhaupt nicht normal.
Wo war die Menschenansammlung, wo waren die Absperrungen, der Notarztwagen, der Leichenbestatter? Selbst wenn der Mann auf dem Grab keine medizinische Hilfe mehr benötigte und selbst wenn er auf die diskreten Dienste der Pietät Soundso verzichten konnte – schließlich lag er im Prinzip schon dort, wo er hingehörte –, selbst dann vermisste ich jemanden.
Wo blieb die Polizei?
Es klickte leicht, als ich den Ständer meines Fahrrads mit dem Fuß umlegte. Ich schloss es ab und steckte den Schlüssel ein. Die ganze Sache kam mir komisch vor. Die Seitentür des Friedhofs stand offen. Ich betrat das Gelände, sah mich um und ging langsam denselben Weg wie gestern Abend um 11. Eine ältere Frau kam mir entgegen, klein und energisch, bestimmt schon seit Stunden wach. Sie nickte mir kurz zu. Nach einigen Metern blieb ich stehen und schaute hinunter ins Parterre des Bergfriedhofs. Morgendliche geschäftige Betriebsamkeit. Verwelkte Blumen wurden auf den Kompost geworfen, neue eingepflanzt, Frauen – kein einziger Mann war zu sehen – harkten, schnitten und putzten, gossen und begutachteten. Ganz in der Nähe spielten drei Kinder zwischen den Gräbern Verstecken, ihre junge Mutter hielt sie nur mühsam im Zaum. Die Sonne lachte vom Himmel. War das derselbe Ort, an dem ich keine 10 Stunden zuvor einen Toten gefunden hatte?
Ich bog um eine Ecke und sah die Grabplatten von gestern vor mir. Die Gräber – aber keinen Toten. Da war der schmale Weg, da waren die Büsche, die Wurzeln, die Steinplatten, die Namen darauf und sonst nichts. Kein Aufruhr, keine Absperrbänder, kein Polizist und vor allem: keine Leiche. Tabula rasa.
Ich stand unter den mächtigen, leise rauschenden Kastanienbäumen und kratzte mich im Nacken.
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