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Bergfriedhof

Bergfriedhof

Titel: Bergfriedhof Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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Natürlich, wo es keine Leiche gab, brauchte man auch keine Behörden. Aber wer hatte den Mann weggebracht? Und wohin, warum, wann?
    Oder war ich vielleicht, nein, Unsinn. Irrtum ausgeschlossen: Ich war punktgenau an der richtigen Stelle gelandet, hatte exakt den Weg von gestern Abend eingeschlagen. Die Gräber waren nicht zu verfehlen, es waren schließlich die einzigen weit und breit, die man schmucklos, fast unansehnlich gelassen hatte. Rechteckige Grabplatten aus den Kriegsjahren, roh behauen, darüber ein paar schäbige Holzkreuze. Die üblichen mitteleuropäischen Abschiedsworte: Hier ruht in Frieden ..., Der Herr spricht ..., auf manchen lediglich der Name, die Daten. Spatzen saßen auf einem Kreuz. Ein warmer Frühlingstag, sonnig.
    Eins der drei spielenden Kinder rannte vorbei und stolperte über die eigenen Füße. Wie ein junger Hund, der noch keine Kontrolle über seine tapsigen Gliedmaßen hat. Es rappelte sich auf, lachte über das ganze dreckige Gesicht und rannte zu seiner Mutter zurück. Diesmal unfallfrei. Ich sah ihm nach und rieb mir das Kinn. Verdammt noch mal, wo war der Kerl?
    Wo steckte er? Im Grab vielleicht? Auf welchem hatte er überhaupt gelegen?
    Dann ein Déjà-vu-Erlebnis: das leichte Zittern der Erde, ein rumpelndes Geräusch von unten, aus der Ebene. In der Rohrbacher Straße fuhr die Straßenbahn aus Leimen Richtung Stadt.
    Ich schaute mich um; niemand beachtete mich. Eine Hand am Kinn, wiederholte ich langsam die Schritte, die ich tags zuvor gemacht hatte. Ging noch einmal zurück zum Seiteneingang, kehrte um, versuchte mich an Details der Umgebung zu erinnern. Wie lange hatte ich gebraucht, wo hatte ich gestanden, wo genau war ich gestolpert? Am Ende gelangte ich zu einer der mittleren Grabstellen. Jakob Burkhardt stand auf dem altersdunklen Kreuz. Er war 17 Jahre alt gewesen, als er starb. Sie hatten ihm die gleiche nackte Steinplatte gegeben wie den anderen auch, er hatte ihr Schicksal geteilt. Rechts neben ihm lagen Männer mit polnisch klingenden Namen, links eine Frau, Margarete Neubusch, und alle waren sie im letzten Kriegsjahr umgekommen. Nur auf dem Grab der Frau standen frische Blumen.
    Burkhardt ... ich glaube, ich hatte mal einen Schulkameraden, einen Alkoholiker, der so hieß.
    Und meine Leiche?
    Ich setzte mich auf Jakobs Grab, riss ein paar Grashalme aus und überlegte. Theoretisch gab es mehrere Möglichkeiten, die Abwesenheit der Leiche zu erklären. Theoretisch. Zum Beispiel die: Der Tote war gar nicht tot, sondern scheintot und, nachdem er mich ordentlich erschreckt hatte, quietschfidel aufgesprungen und in die nächste Kneipe geeilt. Prima Vorschlag.
    Möglichkeit zwei: Der Silberrücken war zurückgekommen, hatte die Leiche in den Kofferraum gepackt und irgendwo entsorgt. Schon besser. Möglichkeit drei: Ein ganz anderer war aufgetaucht, der den Toten kannte oder auch nicht, und hatte aufgeräumt. Aber wer sollte das gewesen sein? Und schließlich viertens: Die Polizei hatte noch in der Nacht einen anonymen Anruf erhalten, den Toten identifiziert und den ganzen Fall aufgeklärt. Das war nicht nur unwahrscheinlich, sondern ausgeschlossen. Man weiß, wie deutsche Behörden arbeiten.
    Nein, eines war sicher: Sobald die ersten Wärter oder Besucher des Friedhofs hier ihre Runden drehten, hatte die Leiche nicht mehr an ihrem Platz gelegen. Sie war weggebracht worden, von meinem Freund, dem Pfeffersprayer, oder von einem anderen.
    Ich stand auf und ging zurück zum Seiteneingang. Ein Weg von mindestens 100 Metern. Sollte der Silberrücken dazu imstande sein? Ein 70-Jähriger sollte einen ausgewachsenen Mann geschultert, zum Auto geschleppt und in den Kofferraum verladen haben? Sicher, er konnte den Wagen direkt vor dem Seiteneingang geparkt haben, um Anstrengung und Risiko zu minimieren. Trotzdem: eine beachtliche Leistung.
    Zurück am Grab begann ich, die nähere Umgebung nach Spuren abzusuchen. Das war eigentlich die einfachste Sache der Welt. Nur, dass ich nicht wusste, wonach ich suchte. Die Wege zwischen den Gräberreihen bestanden aus festgetretenem Kies und Sand; abgesehen von der einen, mir wohlbekannten Baumwurzel waren sie eben und wiesen keine Schleif- oder Trittspuren auf. Ich spähte über sie hinweg. Ich ging in die Hocke. Ich ließ mich auf die Knie nieder. Erstaunlich, wie vielfarbig Kies ist, wenn man ihn aus der Nähe betrachtet. Nach einigen Minuten wandte ich mich dem Gras zu, das zwischen den Gräbern wuchs. Und dort wurde ich zum ersten Mal

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