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Bergfriedhof

Bergfriedhof

Titel: Bergfriedhof Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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Spielplatz begrenzte. Dort roch es auch; allerdings nicht mehr nach Parfüm.
    Ich schnappte nach Luft und rappelte mich auf. Zwei bleiche Jungs mit Elvis-Tolle starrten mich entsetzt an. In einiger Entfernung quietschten Reifen. Schüler kauerten am Boden, es gab Hilferufe und Tränen, Schulhefte flatterten durch die Luft. Vor mir lag meine rote Mühle, das Vorderrad noch in wilder Drehbewegung. Jemand schrie mich an, einfach so, ohne Sinn und Verstand.
    Ich hasse Schule, dachte ich und hob das Rad auf.
    Sekundenbruchteile später saß ich wieder im Sattel und setzte meine Flucht fort.
     

8
    Diese Geschichte machte mich bei Maria zum Helden. Einzubilden brauchte ich mir allerdings nichts darauf. Jeder, der sich mit den Bullen anlegt, wird im Gasthaus Zum Englischen Jäger , so heißt Marias Kneipe offiziell, zum Revolutionär erklärt, da gilt schon ein Sozialhilfeempfänger als Robin Hood. Und von Sozialhilfeempfängern wimmelt es bei Maria. Was hier herumlungert, würde so manchem anständigen Heidelberger schlaflose Nächte bereiten: Penner, gescheiterte Akademiker, linke Jugend, Bettler, Punks und Freaks. Aber auch das genaue Gegenteil dieser Kundschaft, nämlich alt eingesessene Heidelberger, deren Horizont exakt vom einen Ende der Bergstraße bis zum anderen reicht, keinen Meter weiter. Hier begegnen einem Gestalten, denen einfach alles zuzutrauen ist, knorrige Fremdenlegionäre mit Tätowierungen am Hals, vernarbt und schweigsam, am selben Tisch friedliche Trottel, die sich abends von ihrem Betreuer ins Heim bringen lassen, außerdem selbsternannte Propheten, Ökofritzen, Aussteiger, Wanderprediger, Hausbesetzer und Ex-Knackis. Alle vereint ein und derselbe schlichte Wunsch: in Ruhe ein billiges Bier zu trinken und über die oberen Zehntausend herzuziehen.
    Hier war ich goldrichtig.
    Ich traf am Sonntagnachmittag gegen drei ein, um von meinen Abenteuern zu berichten und dem schönen Herbert zu zeigen, wie man Schach spielt. Übrigens gleichzeitig, doch das störte keinen, am wenigsten Herbert. Beim Spielen hat er keine Eile: überlegt, kratzt sich knirschend die Bartstoppeln, überlegt, stopft sich die Pfeife, puhlt in den Zähnen herum, verzieht sich aufs Klo, um dort weiter zu überlegen ... Ich quatsche derweil mit Maria, der Glatzköpfigen, bestelle ein Bier nach, lese Zeitung. Irgendwann kehrt Herbert zurück, legt die Pfeife zur Seite, macht eine fatalistische Geste und entschließt sich unter Seufzen und Wehklagen vielleicht zu einem Zug. Je inbrünstiger er dabei jammert, desto sicherer stehe ich vor dem baldigen Matt.
    »Die Eröffnung, Max«, lautet sein Lieblingsspruch. »Schon meine Eröffnung war ein Fiasko.« Heute bekam ich ihn dreimal zu hören.
    Der schöne Herbert ist zwar nicht schön – angeblich war er das nie –, aber bemerkenswert pessimistisch – das war er schon immer –, und er hat nur einen Arm. Ob das eine mit dem anderen zusammenhängt, wage ich nicht zu beurteilen. Vielleicht hat er als Jugendlicher noch ein wenig fröhlicher in die Welt geblickt, bevor ihm ein Blindgänger den rechten Arm bis zur Schulter abriss. Das war im Jahr 48 in Mannheim-Feudenheim, als er und seine Freunde taten, was alle Jungs ihres Alters taten: Sie liefen durch die Gegend, buddelten in der Erde herum und spielten mit den Gegenständen, die sie fanden. Zwei von ihnen überlebten es nicht, Herbert verlor seinen Arm. Da war er sieben. Aus irgendeinem Grund wurden seine Eltern viel zu spät benachrichtigt, und als er aus der Operation erwachte, war lediglich eine Krankenschwester im Raum, die ihm erklärte, worauf Vater und Mutter bei der Pflege zu achten hätten. Meine Mutter ist verschüttet, sagte Herbert, und mein Vater in Stalingrad vermisst; die Schwester wurde blass, doch eine Viertelstunde später standen Herberts Eltern im Zimmer und verpassten ihm eine Ohrfeige. Warum auch immer.
    Herbert erzählt diese Geschichte gerne, um seine Zuhörer zu amüsieren, aber wann er selbst zum letzten Mal herzhaft gelacht hat, weiß keiner. Mit links kommt er prima zurecht, behauptet er. Wird schon stimmen.
    Jedenfalls gaben seine langwierigen Denk-, Kratz- und Pfeifenstopfpausen mir Gelegenheit, häppchenweise von meinem heroischen Widerstand gegen die Staatsgewalt zu berichten. Die halbe Kneipe lauschte aufmerksam: die Schachkiebitze an unserem Tisch, die Alten vom Stammtisch, zwei langhaarige Motorradfahrer an der Theke und natürlich Maria. Außer Hörweite, auf der anderen Seite des Raumes, saßen noch

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