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Berichte aus dem Christstollen

Berichte aus dem Christstollen

Titel: Berichte aus dem Christstollen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Weiler
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genau vorstellen, wie das gelaufen ist.
    Sie sitzt einmal im Monat mit Mütterkolleginnen zusammen, und sie erörtern wichtige Fragen der Kindererziehung und vor allen Dingen medizinische Themen. Sie diskutieren zum Beispiel stundenlang darüber, ob Kinder Sand essen sollen. Einige halten das für gefährlich, weil man nicht weiß, was in Sand so drin ist, außer Sand. Und die anderen finden, Sand reinige den Magen.
    Ich kann mich daran erinnern, dass ich als Jugendlicher auf einem Campingplatz in Südfrankreich auch Töpfe und Pfannen mit Sand geschrubbt habe, aber ich weiß nicht, ob Kindermägen auch aus Gusseisen oder Edelstahl sind und ob sie eine Antihaftbeschichtung haben, die man nicht verkratzen darf. Und weil ich nicht mitreden kann, komme ich nie mit zu Sitzungen der Schulpflegschaft, wo auch darüber gesprochen wird, wo bei den Kids die Grenze zwischen «lebhaft» und «asozial» verläuft – und wer von den männlichen Erziehungsberechtigten als Bischof am besten geeignet wäre. Meine zauberhafte Frau hat dazu vermutlich gesagt: «Das kann ruhig mal mein Mann machen, der macht ja sonst nix.»
    Sie kam nach Hause, und ich fragte: «Na, wie war es in der Neigungsgruppe Männerhass?»
    Sie antwortete: «Gut, wir haben einstimmig beschlossen, dass du dieses Jahr der Nikolaus bist.»
    «Was heißt einstimmig? Ich bin dagegen!»
    «Aber du warst nicht da.»
    «Barack Obama war auch nicht da. Müsste der das jetzt machen, wenn ihr ihn gewählt hättet?»
    «Du wirst doch wohl einmal im Jahr den Nikolaus machen können.»
    «Ich habe gerade erst Dattelmanns grauenhaften Punsch ausgeschenkt.»
    «Eigentlich hast du ihn vor allen Dingen ausgetrunken.»
    «Egal, ich habe meine Pflicht erfüllt.»
    «Das Kostüm gibt es im Büro. Du musst es mittags abholen und dann pünktlich um 17  Uhr ans Fenster klopfen. Der Sack mit den Geschenken steht neben der Papiertonne. Und das Buch auch.»
    Das kannte ich schon: Die Eltern beklebten je eine Seite in dem großen Buch mit einer Art Zeugnis für ihr Kind. Meistens stand drin, dass der Korbi sein Zimmer schon ganz toll aufräume, jedoch bitte schön den Kopf seiner kleinen Schwester zukünftig nicht mehr im Klosett untertauchen möge. Als Nikolaus hatte ich dies mahnend vorzutragen und dann dem zauberhaften Korbi das für ihn vorgesehene Geschenk zu überreichen. Die Päckchen im Sack waren mit Namensschildern versehen. In Nicks Klasse gab es zwanzig Kinder.
    Um halb fünf zog ich mich um. Griechische Bischofsmontur, total stilecht. Allerdings roch der Bart ziemlich streng. Der Hund erkannte mich nicht und biss bellend in mein Gewand. Ich nahm dies als Kompliment für meine Verkleidungskunst, die ich mit einer ausrangierten Brille krönte. Die Gläser waren entschieden viel zu schwach. Dann setzte ich mich ins Auto. Ich parkte hinter der Schule, holte mir Sack und Buch und klopfte mit dem Bischofsstab ans Fenster. Ich brummte: «Ho! Ho! Hooo!» Eine Referendarin öffnete das Fenster und rief verzückt: «Nun guckt mal, wer da ist!» Und zu mir sagte sie leise: «Bitte nicht Ho-ho-hooo. Das ist Amischeiße. Wir sagen ‹Hallo, Kinder, lasst mich ein, ich will so gerne bei euch sein›. Okay?» Dann öffnete sie die Tür, ich kam hineingestolpert (der Umhang, die Tür, der Sack) und rief: «Hallo. Lasst mich rein, Kinder, lasst mich rein, damit ich bei euch sein kann.»
    «Das reimt sich gar nicht», rief ein kleiner Klugscheißer, den ich rasch als die Pest aus dem Haus gegenüber identifizierte. Seine Eltern waren genauso schlimm wie er, bloß älter. Und hässlicher.
    Ich setzte mich auf einen kleinen Stuhl. Mir war warm. Ich wollte nach Hause. Nachdem ich dreimal tief ein- und ausgeatmet hatte, machte ich mir ein Bild von meinem Publikum. Zwanzig Kinder, drei Lehrerinnen. Der Duft von Früchtetee. Mein Sohn Nick saß in der ersten Reihe und hatte vor Aufregung knallrote Wangen, soweit ich das mit der uralten Brille erkennen konnte. Ich wollte gerade anfangen mit dem Buch, als die kleine Claire anfing zu weinen.
    «Was’n los?», fragte ich. «Ich habe doch noch gar nicht angefangen!?»
    «Du bist so gruselig», rief Claire, und das tat mir leid. Und außerdem stimmte es gar nicht. Ich glaube eher, da ist irgendwas zu Hause in der Familie nicht in Ordnung. Da muss man mal mit dem Jugendamt hin. Meine Meinung. Egal.
    «Das wird alles nicht so schlimm», sagte ich in väterlichem Brummton. Ich hob das Buch, schlug es auf und fragte: «Na, woooo ist denn der kleine Finn?»

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