Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
sollte, Achesons Text ganz aus dem Verkehr zu ziehen. Die Gefahr, dass Achesons Gedanken durchsickerten, argumentierten die Verfasser, sei größer als die Gefahr, die mit einer ausführlichen Diskussion im engeren Kreis verbunden sei.
Ohne zu wissen, dass Chruschtschow seinen Kurs in der Berlin-Frage bereits beschlossen hatte, führten Regierungsvertreter in Washington hinter den Kulissen einen regelrechten Krieg gegen Dean Acheson. Obwohl das Memorandum mit heißer Nadel gestrickt worden war, war es gründlich und enthielt sogar den Vorschlag, neue Personen in den Prozess einzubeziehen, um den Einfluss Achesons abzuschwächen. Unter anderen wurden Averell Harriman und Adlai Stevenson ins Spiel gebracht.
Das war die Rache der so genannten SLOBs, der »Weicheier« in der Berlin-Frage.
Schlesingers Memorandum schloss mit dem Vorschlag, einen der Autoren in den Prozess einzubinden. »Insbesondere sollte Henry Kissinger ins Zentrum der Berlin-Planung geholt werden«, hieß es. Es sollte einer der ersten Auftritte für einen Mann werden, der sich im Laufe der nächsten Jahre zu einem der einflussreichsten außenpolitischen Berater entwickeln sollte.
Um dieselbe Zeit bekam Kennedy auch von Verteidigungsminister McNamara und Sicherheitsberater Bundy Zweifel an der bestehenden Atomkriegsplanung bezüglich Berlin zu hören. In seiner eigenen Denkschrift im Vorfeld des Treffens in Hyannis Port beschwerte sich Bundy über die »gefährliche Starrheit des strategischen Kriegsplans«. Der Plan ließ dem Präsidenten kaum eine Wahl zwischen einem Angriff mit allen Mitteln auf die Sowjetunion und überhaupt keiner Reaktion. Bundy schlug vor, dass McNamara den Kriegsplan überarbeitete. 16
WEISSES HAUS, WASHINGTON, D.C.
FREITAG, 7. JULI 1961
Henry Kissinger fuhr in seiner Funktion als Berater des Weißen Hauses nur an ein oder zwei Tagen pro Woche von seiner Stelle an der Harvard University nach Washington, doch das genügte vollauf, um ihn ins Zentrum der Auseinandersetzung um Kennedys Ansicht in der Berlin-Frage zu katapultieren. Der ehrgeizige junge Professor hätte mit Freude auch in Vollzeit für den Präsidenten gearbeitet, aber das wurde von seinem ehemaligen Dekan und derzeitigen Vorgesetzten, dem Nationalen Sicherheitsberater McGeorge Bundy, verhindert. 17
Obwohl Kissinger es meisterlich verstand, sich bei Vorgesetzten lieb Kind zu machen, war Bundy dagegen resistenter als die meisten. Genauso wie der Präsident hielt Bundy Kissinger zwar für einen brillanten Kopf, aber auch für anstrengend. Bundy ahmte Kissingers langatmige Tiraden mit deutschem Akzent sowie das dazugehörige Augenrollen des Präsidenten nach. Kissinger beklagte sich seinerseits, dass Bundy seine beachtlichen geistigen Fähigkeiten in den »Dienst von Ideen [gestellt habe], die eher modisch als gehaltvoll waren«. Kissingers Biograf Walter Isaacson gelangte zu dem Schluss, dass ihre Differenzen auf die Herkunft und den Stil zurückzuführen waren – der distinguierte Bostoner aus der Oberschicht, der sich zu dem ungestümen deutschen Juden herabließ. 18
Diese Nähe zum Zentrum der amerikanischen Macht war dennoch eine neue und aufregende Erfahrung für Kissinger sowie eine erste Einführung in die Grabenkämpfe im Weißen Haus, die einen so großen Teil seines außergewöhnlichen Lebens ausmachen sollten. Der mit den Vornamen Heinrich Alfred 1923 im bayerischen Fürth geborene Kissinger war mit seiner Familie vor der Verfolgung durch die Nazis geflohen und im Alter von fünfzehn Jahren nach New York gelangt. Nunmehr stand er dem Oberbefehlshaber der USA mit Rat und Tat zur Seite. Bundy hatte sich zwar alle Mühe gegeben, ihn von Kennedy fernzuhalten, aber jetzt verschaffte ihm ein anderer Harvard-Professor, nämlich Arthur Schlesinger, Zugang zum Präsidenten und setzte ihn gegen Acheson ein.
Kissinger, gut dreißig Jahre jünger als Acheson, hatte weder dessen politische Erfahrung noch dessen Zugang zum Oval Office, aber sein zweiunddreißigseitiges »Memorandum für den Präsidenten« zum Thema Berlin war ein tollkühner Versuch, den ehemaligen Außenminister auszubooten. Es landete, unmittelbar bevor Kennedy nach Hyannis Port aufbrach, um dort seine eigene
Haltung zu Berlin auszuarbeiten, auf dem Schreibtisch des Präsidenten. Kissinger war zwar ein viel stärkerer Hardliner gegenüber Moskau als Schlesinger, doch er hielt es für geradezu verwegen, wenn der Präsident Achesons völlige Ablehnung der Diplomatie als gangbaren Weg
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