Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
einziger Kurs in den bevorstehenden kritischen Tagen, falls die Sowjets bei ihrer aggressiven Haltung bezüglich Berlin seit dem Wiener Gipfel blieben, darin bestehen müsse, dem risikoscheuen Chruschtschow jede unilaterale sowjetische Aktion als zu riskant erscheinen zu lassen. »Mit anderen Worten, wir müssen bereit sein, uns einem Showdown zu stellen«, sagte er. Kissinger schob die Argumente einiger Regierungsmitarbeiter
beiseite, dass Kennedy in Berlin Zugeständnisse machen sollte, um Chruschtschow bei seinen innenpolitischen Auseinandersetzungen mit den gefährlicheren Hardlinern im Vorfeld des XXII. Parteitags im Oktober zu unterstützen. »Chruschtschows innenpolitische Stellung ist sein, nicht unser Problem«, sagte er und fügte hinzu, dass nur ein starker Chruschtschow versöhnlich auftreten könne – aber damit könne Kennedy nicht rechnen.
Am meisten Kopfzerbrechen bereitete Kissinger der augenscheinliche Kurs Kennedys, in der Berlin-Frage nichts zu unternehmen und den nächsten sowjetischen Zug abzuwarten, was laut Kissinger ein sehr riskantes Vorgehen sei. »Was uns als wachsames Abwarten erscheinen mag, könnte [Chruschtschow] als Unsicherheit auslegen«, schrieb Kissinger. Geradezu prophetisch ließ er durchblicken, dass ein solcher Ansatz Moskau dazu verleiten würde, eine Krise im Augenblick der »größten Schwierigkeiten« für die Vereinigten Staaten auszulösen, was eine Situation heraufbeschwören würde, in der die Welt an Kennedys Entschlossenheit zweifeln würde.
In einer Notiz für Schlesinger erklärte Kissinger später: »Ich befinde mich in der Position eines Mannes neben einem Fahrer, der direkt auf einen Abgrund zurast, und werde darum gebeten, dafür zu sorgen, dass der Benzintank voll ist und der Öldruck ausreicht.« Der Umstand, dass er sich am Rand der Entscheidungsfindung befand, frustrierte Kissinger. Er fürchtete schon, dass das Weiße Haus unter Kennedy ihn nur für das Brainstorming brauchte, nicht als Mann, dessen Rat auch Beachtung fand. Im Oktober trat er dann zurück, nachdem er zu dem Schluss gelangt war, dass seine Ideen nicht ernst genommen wurden. 20
HYANNIS PORT, MASSACHUSETTS
SAMSTAG, 8. JULI 1961
US-Präsident Kennedy war unzufrieden. 21
Es war nicht folgenschwer, im Fall von Laos oder sogar Kuba etwas zu vermasseln. Keines der beiden war wirklich bedeutend für die USA oder ihren Platz in der Geschichte. Aber nun ging es um Berlin – die Hauptarena für die entscheidende Auseinandersetzung der Welt! John F. Kennedy rieb das seinen Beratern immer wieder unter die Nase, wenn er seine Bestürzung darüber zum Ausdruck brachte, dass sie immer noch auf das von Chruschtschow in Wien
übergebene Aide-Mémoire antworten mussten, während Moskau unterdessen munter weiter vorpreschte – dabei war seit dem Gipfel mehr als ein Monat vergangen. 22 Die Meldung aus der Sowjetunion an jenem Morgen war schlecht. Chruschtschow hatte angekündigt, Pläne für einen Abbau der sowjetischen Armee um 1,2 Millionen Mann zu streichen und stattdessen das Verteidigungsbudget um ein Drittel auf 12,4 Milliarden Rubel aufzustocken, eine Erhöhung von umgerechnet rund 3,4 Milliarden Dollar. In einer Rede vor den Absolventen der sowjetischen Militärakademien erklärte Chruschtschow, dass ein neuer Weltkrieg um Berlin keineswegs unvermeidlich sei, dennoch riet er den Soldaten seines Landes, sich auf das Schlimmste gefasst zu machen.
Die sowjetischen Soldaten jubelten begeistert.
Chruschtschow sagte ihnen, seine Maßnahmen seien eine Reaktion auf Meldungen, dass US-Präsident Kennedy eine Aufstockung des Verteidigungshaushalts um weitere 3,5 Milliarden Dollar beantragen werde. Damit rückte der Sowjetführer von der hartnäckigen Forderung ab, die allgemeinen wirtschaftlichen Investitionen dem Militärhaushalt voranzustellen und die Zahl der Raketen auf Kosten der Truppenzahlen zu erhöhen. »Das sind notgedrungene Maßnahmen, Genossen«, sagte er. »Die Umstände veranlassen uns dazu, da wir die Interessen der Sicherheit des Sowjetvolkes nicht ignorieren dürfen.« 23
Kennedy schäumte vor Wut, weil die Zeitschrift Newsweek Details aus der streng geheimen Eventualfallplanung des Pentagons bezüglich Berlin veröffentlicht hatte, auf die sich Chruschtschow bei seiner Antwort offenbar stützte. Kennedy war über dieses Leck so aufgebracht, dass er das FBI anwies, die undichte Stelle umgehend zu finden. 24
Chruschtschow hatte auf den Newsweek- Artikel geantwortet, als handle es
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