Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
sich um eine Erklärung der Politik Kennedys. Da ihm klar war, dass London das schwächste Glied der Alliierten in Sachen Berlin war, hatte Chruschtschow den britischen Botschafter Frank Roberts zu einer Ballettaufführung der berühmten britischen Ballerina Margot Fonteyn im Bolschoi-Theater in seine Loge bestellt. Er hielt ihm während einer Pause eine regelrechte Standpauke. Verächtlich bezeichnete Chruschtschow den britischen Widerstand gegen die sowjetischen Ziele in Berlin als vergeblich. Er sagte zu Roberts, dass sechs Wasserstoffbomben »völlig ausreichen« würden, um die britischen Inseln zu zerstören, dass neun Frankreich auslöschen würden und dass der Kreml mit hundertfacher Überlegenheit auf jede neue Division antworten könne, die der Westen auftreiben würde. In dem Bewusstsein, dass er Premierminister Macmillan nach dem Mund redete, sagte der Parteichef: »Aber
warum sollten zweihundert Millionen Menschen für zwei Millionen Berliner in den Tod gehen?« 25
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8. Juli: Der US-Präsident, hier an Bord der Jacht Marlin, ruft seine wichtigsten Berater nach Hyannis Port, um über die Krise zu diskutieren, die sich allmählich verschärft. Von links nach rechts: John F. Kennedy, der militärische Berater Maxwell Taylor, der Außenminister Dean Rusk und der Verteidigungsminister Robert McNamara.
In Hyannis Port tadelte Kennedy Außenminister Rusk, der im üblichen Geschäftsanzug auf dem Heck der Marlin, Kennedys 15 Meter langer Motorjacht, saß, weil er es versäumt hatte, eine Antwort auf Chruschtschows Berlin-Ultimatum vorzulegen. Während der Präsident vor Wut schäumte, fuhr die First Lady Wasserski im Meer, und Robert McNamara und General Maxwell Taylor leisteten Kennedys Freunden Charles Spalding und seiner Frau Gesellschaft bei Hotdogs und Fischsuppe.
Auf Rusks Einwand, der Text habe sich verzögert, weil man ihn mit den Alliierten abstimmen musste, platzte Kennedy los, dass keiner der Alliierten, sondern der US-Präsident die Hauptverantwortung für Berlin trage. Von Schlesingers Denkschrift inspiriert, wies er Rusk an, ihm innerhalb von zehn Tagen einen Plan für Verhandlungen bezüglich Berlin vorzulegen. 26 Anschließend wandte sich der Präsident an Chip Bohlen, einen ehemaligen Botschafter in Moskau: »Chip, was ist denn nur los in eurem verdammten Ministerium? Ich bekomme nie eine schnelle Antwort, ganz gleich, was ich sie frage.« 27
Martin Hillenbrand, der Leiter des Deutschland-Ressorts im US-Außenministerium,
behauptete später, ein Entwurf für die Antwort auf das sowjetische Aide-Mémoire sei in Wirklichkeit unverzüglich verfasst worden. Zehn Tage später habe das Außenministerium jedoch festgestellt, dass er im Weißen Haus unauffindbar war. Also forderte der Sonderberater des Präsidenten Ralph Dungan einen zweiten Entwurf an. Der Mitarbeiter des Weißen Hauses schloss das Papier in seinen Safe ein, fuhr jedoch anschließend zwei Wochen in Urlaub, ohne die Kombination für den Safe zu hinterlassen. Zur selben Zeit taten sich auch die NATO-Bündnispartner schwer mit einer angemessenen Antwort. 28
Während die verschiedenen Regierungsmitarbeiter sich gegenseitig die Schuld zuschoben, verlangte der aufgebrachte Kennedy, dass das Pentagon ihm einen Plan für einen nicht atomaren Widerstand im Fall eines Konflikts um Berlin ausarbeitete. Er sollte so aussagekräftig sein, erklärte Kennedy, dass ein sowjetischer Vormarsch verhindert werde, der Präsident Zeit für ein Gespräch mit Chruschtschow gewinne und ein übereilter Rückgriff auf Kernwaffen vermieden werde. »Ich will dieses verdammte Papier in zehn Tagen«, sagte Kennedy. 29
Der US-Präsident forderte seine Berater auf, ihm abgesehen von der derzeitigen Wahl zwischen »Holocaust oder Erniedrigung« neue Optionen zu bieten.
LI NCOLN-SCH LAFZIMMER, WASHINGTON, D.C.
DIENSTAG, 25. JULl 1961
Am späten Nachmittag zog sich John F. Kennedy in sein Schlafzimmer zurück, um die Rede durchzulesen, die er am selben Abend um 22 Uhr vor einem landesweiten Fernsehpublikum halten wollte. Zum ersten Mal nutzte er zu diesem Zweck das Oval Office, deshalb hatten den ganzen Tag über Techniker Kabel und Drähte verlegt.
Kennedy wusste genau, wie viel inzwischen auf dem Spiel stand. Im eigenen Land musste er den zunehmenden Eindruck einer außenpolitischen Schwäche korrigieren, die ihn politisch angreifbar machte. Nach den Fehlern in Kuba und Wien musste er darüber hinaus Chruschtschow überzeugen, dass er bereit war,
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