Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
sehr »vorsichtig war und niemand recht wusste, wo er stand«.
Die britische Regierung hatte ihren flexibleren Kurs an den Economist durchsickern lassen, der daraufhin meldete: »Wenn Mr Kennedy nicht entschlossen das Kommando übernimmt, läuft der Westen Gefahr, eine Kompromissmöglichkeit nach der anderen vorübergehen zu lassen, bis er in eine Sackgasse gerät, in der weder uns noch den Russen eine andere Wahl bleibt, als zwischen schmählichem Rückzug und atomarer Vernichtung zu entscheiden.«
Schlesinger hatte das Gefühl, dass er rasch handeln müsse, um nicht seinen Einfluss zu verlieren, weil das »Gerede über eine Mobilisierung unter Proklamation des nationalen Notstands das Risiko barg, die Krise bis zu einem Punkt zu treiben, von dem es kein Zurück mehr gab«. Er hatte Angst, dass sich die Entwicklung im Vorfeld der Invasion in der Schweinebucht wiederholen könnte, als ein schlechter Plan eine unaufhaltsame Eigendynamik entwickelt hatte, weil sich niemand ihm entgegengestellt oder eine Alternative präsentiert hatte.
Er war entschlossen, einen Showdown zur Berlin-Politik herbeizuführen, bevor es zu spät war.
Am 7. Juli überreichte Schlesinger, unmittelbar nach einem Gespräch mit Kennedy über ein anderes Thema, dem Präsidenten seine Denkschrift zu Berlin und bat ihn, sie sich am Nachmittag auf der Fahrt nach Hyannis Port anzusehen. 13
Schlesinger hatte ganz richtig vermutet, dass nichts schneller Kennedys Aufmerksamkeit finden würde als eine glaubwürdige Warnung, der Präsident sei in Gefahr, seine Fehler in Kuba zu wiederholen. Nach dem Debakel hatte Kennedy im Scherz über das warnende Memorandum Schlesingers zu Kuba gesagt, es »wirke ziemlich gut«, wenn der Historiker einmal dazukommen sollte, sein Buch über die Regierung zu schreiben. Dann fügte er aber warnend hinzu: »Nur sollte er das Memorandum lieber nicht veröffentlichen, solange ich noch am Leben bin.« In seinem Memorandum gegen Acheson erinnerte Schlesinger Kennedy daran, dass das Fiasko in Kuba die Folge einer »übermäßigen Konzentration auf militärische und technische Probleme und der völlig unzureichenden Berücksichtigung politischer Fragen« im Vorfeld gewesen sei. 14 Zwar lobte er Achesons Memorandum, weil es »vorzüglich in der Analyse der letzten Möglichkeiten« sei, äußerte aber die Befürchtung, dass der Ex-Außenminister die Angelegenheit schablonenhaft auf folgende Frage verenge: »Willst du etwa kneifen? […] Wenn jemand etwas vorschlägt, was schneidig, hart, nach Entweder-oder klingt, ist es schwierig, ihm mit etwas entgegenzutreten, das weich, idealistisch gefühlsduselig scheint.« Schlesinger erinnerte den Präsidenten daran, dass sein Experte für die Sowjetunion, Chip Bohlen, die Meinung vertrat, dass kaum etwas die Debatten über die Sowjetunion weiter voranbrächte, als die Wörter »hart« und »weich« aus dem Wortschatz zu streichen.
»Wer gegen Kuba Bedenken hatte«, schrieb Schlesinger und spielte damit eindeutig auf sich selbst an, »stellte sie zurück, weil sie ›weich‹ scheinen könnten. Ganz offensichtlich ist es wichtig, dass derartige Befürchtungen nicht die freie Diskussion der Berlin-Frage einengen.«
Der Präsident las das Memorandum aufmerksam durch und sah anschließend seinen Freund besorgt an. Er stimmte zu, dass Achesons Ansatz zu eng sei und dass »die Berlin-Planung wieder ins Gleichgewicht gebracht werden« müsse. Er erteilte Schlesinger den Auftrag, sein Memorandum auf der Stelle so auszuweiten, dass er es am nächsten Tag in Hyannis Port verwenden könnte.
Schlesinger begann einen Wettlauf gegen die Zeit, weil Kennedys Hubschrauber um 17 Uhr vom Rasen des Weißen Hauses starten sollte. In den
verbleibenden zwei Stunden bis zum Abflug diktierten Chayes und Kissinger, der Jurist und der Politologe, den Text, während Schlesinger fleißig tippte und gleichzeitig redigierte. Als Schlesinger die endgültige Fassung aus der Schreibmaschine zog, hatte er einen Text, der eine ganze Reihe von Fragen zu Achesons Memorandum aufwarf und völlig neue Ansätze vorschlug. Dort hieß es:
Die Prämisse Achesons lautet im Wesentlichen wie folgt: Chruschtschows Hauptziel bei der Forcierung der Berlin-Frage ist es, die Vereinigten Staaten in einer grundlegenden Frage zu demütigen, indem er uns zwingt, bei einem heiligen Versprechen einen Rückzieher zu machen und so unsere weltweite Macht und unser Ansehen zu erschüttern. Die Berlin-Krise hat, in seinen Augen, nichts mit
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