Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
Drucker das Exemplar nicht so schnell ausgab, wie er lesen konnte. Es war die Rede davon, dass »ein gewisser labiler Teil von Einwohnern der DDR«, nämlich die potenziellen Flüchtlinge, als Spione und Saboteure herangezogen würden. Als Antwort sorgten die Staaten des Warschauer Pakts dafür, dass »rings um das ganze Gebiet Westberlins einschließlich seiner Grenze mit dem demokratischen Berlin eine verlässliche Bewachung und wirksame Kontrollen gewährleistet« würden. In der Erklärung wurde den NATO-Staaten ausdrücklich versichert, dass der Warschauer Pakt die Zufahrtswege nach Westberlin nicht antasten werde. 40
Kellett-Long rannte zu seinem Wagen und fuhr zur Grenze, um mit eigenen Augen zu sehen, was sich da abspielte. Abgesehen von ein paar Pärchen, die sich im Hauseingang umarmten, sah er eine verlassene Stadt, während er
die Schönhauser Allee in der Nähe seiner Wohnung entlangfuhr und anschließend in der die Prachtstraße Unter den Linden in Richtung Brandenburger Tor einbog.
Dort schwenkte ein Polizist eine rote Lampe, um ihn anzuhalten.
»Ich fürchte, Sie können nicht weiter«, sagte der Polizist ruhig. »Die Grenze ist geschlossen.«
Also fuhr Kellett-Long Unter den Linden auf dem Rückweg zu seinem Büro aufwärts, um seinen Bericht zu tippen, wurde aber am Marx-Engels-Platz, einem Hauptaufmarschplatz für DDR-Soldaten, angehalten. Ein zweiter Polizist mit einer Lampe stand vor der leeren Fläche und hielt den Verkehr an, damit eine riesige Kolonne aus Mannschaftstransportern mit uniformierten Polizisten und Soldaten passieren konnte. Der Zug war endlos.
Kellett-Long rannte in sein Büro, um eine kurze Sensationsmeldung aufzusetzen, die die Nachrichtenagenturen auf der ganzen Welt alarmieren würde. Die Formulierung war einfach: »Die Ost-West-Grenze wurde heute in den frühen Morgenstunden geschlossen …«
Darauf folgte ein persönlicher Augenzeugenbericht:
Heute früh war ich die erste Person, die in Ostberlin mit dem Auto durch den Polizeikordon fahren musste, seit die Grenzkontrollen kurz nach Mitternacht begannen. Das Brandenburger Tor, der wichtigste Kreuzungspunkt zwischen den beiden Hälften der Stadt, war von ostdeutschen Polizisten, teils mit Maschinenpistolen bewaffnet, und von Mitgliedern der paramilitärischen »Betriebskampfgruppen« umstellt. 41
Dann schaltete Kellett-Long den ostdeutschen Rundfunk ein und hörte die Sprecher ein Dekret nach dem anderen über die Einschränkungen der Reisefreiheit und ihre Durchsetzung verlesen. Er schrieb, so schnell er tippen konnte, neue Meldungen. Dem britischen Reporter kam es sonderbar vor, dass der ostdeutsche Rundfunk zwischen den endlosen Dekreten modernen, sanften Jazz abspielte.
»Das ist alles, was sie im Grunde tun«, dachte er bei sich. »Sie lesen nur ständig Dekrete und spielen nette Musik.«
FRANZÖSISCHER SEKTOR, WESTBERLIN
SONNTAG, 13. AUGUST 1961, 1:50 UHR
Zwanzig Minuten nach Beginn der Operation sah der Westberliner Polizeiwachtmeister Hans Peters die aufgeblendeten Scheinwerfer von einem halben Dutzend ostdeutscher Militärlaster, die die Straße aufwärtsfuhren, auf der er patrouillierte. Die Strelitzer Straße war eine Straße wie 193 andere, die auf der bislang nicht gekennzeichneten Grenze zwischen den beiden Teilen Berlins lag.
Die Laster hielten in einigem Abstand von ihm an, Soldaten sprangen ab und verteilten sich auf beiden Seiten der Straße. Sie trugen lange dunkle Gegenstände, die Peters für Maschinengewehre hielt. Der Kriegsveteran Peters, der an der Ostfront gekämpft hatte, zog seine Smith & Wesson aus dem Halfter. Aber noch während er die Patronen ins Magazin schob, wurde ihm klar, dass die Waffe ihm gegen die Überzahl nichts nützen würde. Er suchte in einem Eingang Deckung, von wo aus er das Schauspiel beobachtete, das sich in dieser Nacht an Dutzenden Orten zugleich abspielte.
Zwei Trupps mit je sechs Soldaten schwärmten aus und bezogen auf den Gehwegen mit dem Gesicht nach Westen Stellung; ihre Maschinengewehre drehten sie auf Dreifüßen in seine Richtung. Sie hatten nicht die Absicht, in den Westen einzudringen, und markierten lediglich eine Linie, um einen unsichtbaren Gegner abzuschrecken. Hinter ihnen schleppten zwei weitere Trupps Stacheldraht. Sie wickelten die Rollen ab und befestigten den Draht an hölzernen Spanischen Reitern, die sie quer über die Straße aufgestellt hatten. Ihr Kordon lag ganz klar innerhalb des sowjetischen Sektors und deutlich hinter der
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