Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
Atomangriffs genauso normal werden sollte wie eine Pockenimpfung.
Der Präsident hatte sein Nationales Sicherheitsteam zusammengerufen, um letzte Hand an die militärischen Instruktionen an die NATO anzulegen. Jedem der Beteiligten war dabei Chruschtschows erst drei Tage zuvor erfolgte Ankündigung einer 50-Megatonnen-Bombe gegenwärtig. Es würde keine einfache Sitzung werden.
Seine Vereinigten Stabschefs stritten sich über Kennedys geplante Aufstockung der konventionellen Truppen in Europa und ihre potenziellen Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit der amerikanischen Nuklearabschreckung.
De Gaulle und Adenauer waren der Ansicht, dass Kennedy sich viel zu sehr um Verhandlungen mit Chruschtschow über die Zukunft Westberlins bemühe, statt den Sowjetführer von seiner Bereitschaft zu überzeugen, die Stadt auch mit Atomwaffen zu verteidigen.
Anscheinend unterstützte nur Macmillan Kennedys gesteigerten Wunsch, mit Moskau zu verhandeln. 33 Während er noch im Frühjahr Kennedys konfrontativen Umgang mit den Sowjets abgelehnt hatte, sah der Premierminister jetzt mit Befriedigung, dass sich der US-Präsident inzwischen dem konzilianteren britischen Kurs Moskau gegenüber angeschlossen hatte. Ebenso fand er es ermutigend, dass Kennedy von de Gaulle wie von Adenauer zusehends »die Nase voll« hatte.
Bei all den Widersprüchen zwischen den westlichen Verbündeten über die in Berlin anzuwendende Strategie war es für Kennedy wichtig, zumindest im eigenen Land die Differenzen zu beseitigen. Zu diesem Zweck versammelten sich am 20. Oktober um 10 Uhr vormittags im Kabinettssaal des Weißen Hauses Bobby, der Bruder des Präsidenten, Rusk, McNamara, Bundy und Lemnitzer. 34 Neben dem Präsidenten saß der stellvertretende Verteidigungsminister Roswell Gilpatric, der im Pentagon für alles verantwortlich war, was mit der nuklearen Bedrohung durch die Russen zu tun hatte. Auch alle anderen wichtigen Gestalter der Berlin-Politik waren anwesend: neben Nitze der Leiter der Berlin-Task-Force Foy Kohler, ferner der Leiter der Deutschland-Abteilung im Außenministerium Martin Hillenbrand und – wie so oft in wichtigen Augenblicken der Berlin-Krise – Dean Acheson, als der von außen kommende Ideengeber.
Zu Beginn der Sitzung berichtete Lemnitzer dem Präsidenten von den »gravierenden Meinungsverschiedenheiten« der Vereinigten Stabschefs über die Notwendigkeit einer schnellen, konventionellen Aufrüstung. Der Luftwaffenchef Curtis LeMay und der Marinechef Admiral George Whelan Anderson jun. teilten General Norstads Ansicht, dass in »nächster Zukunft« keine größere
Verstärkung der konventionellen Streitkräfte nötig sei. Im Gegensatz dazu stimmten Lemnitzer und der Stabschef der US-Armee, General George Decker, mit McNamara überein, dass eine solche Verstärkung genau in diesem Augenblick erfolgen müsse.
Rusk legte dann Norstads Argumentationslinie dar: Ein Disput über Berlin könne so schnell zu einem Atomkrieg eskalieren, dass jede konventionelle Aufrüstung nutzlos sei. Darüber hinaus fürchtete Norstad, dass der Ausbau der konventionellen Streitkräfte »die Glaubwürdigkeit und Leistungsfähigkeit der Atomstreitkräfte beeinträchtigen würde«. Mit dieser Ansicht stand Norstad an der Seite der Deutschen und Franzosen gegen den US-Präsidenten.
Wie so oft, wenn es in der Berlin-Frage brenzlig wurde, suchte Kennedy Rat bei Acheson. In dem Memo, das Bundy später über den Verlauf dieser Sitzung verfasste, heißt es leicht spöttisch: »Von diesem Augenblick an wurde die Sitzung von Mr Acheson dominiert.« Später drückte es Bundy etwas süffisanter aus: »Wie gewöhnlich war Mr Acheson die Ballkönigin.« 35
Acheson hatte für die Empfindlichkeiten der Alliierten nichts übrig. Er meinte, dass US-Offizielle in einem Moment großer nationaler Dringlichkeit viel zu viel Zeit darauf verwenden würden, die Zustimmung der Franzosen, Briten, Westdeutschen und anderer Verbündeten einzuholen, wo doch die Amerikaner ganz allein diese Last würden tragen müssen. Acheson war der Ansicht, dass die USA noch vor dem November neue Divisionen nach Europa schicken sollten – ohne Rücksicht darauf, was die Verbündeten darüber dachten oder sagten.
Acheson glaubte fest, dass die Botschaft der Entschlossenheit, die Kennedy durch eine Verlegung konventioneller Truppen nach Europa aussenden würde, »diplomatisch und politisch« hilfreich sein würde. Er widersprach der Auffassung, dass die nukleare Logik den Bedarf
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