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Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Titel: Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederick Kempe
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Zweck habe. Ulbricht wusste genau, dass Chruschtschow sich dem zu einer Zeit nicht widersetzen konnte, in der die Bedürfnisse der DDR immer mehr anwuchsen und der Kreml immer heftiger über die Kosten klagte, die ihm deren Befriedigung verursachte.

    In Wirklichkeit waren aber der Zeitpunkt sowie die Choreografie des Treffens politisch. 9 In China wurde die Delegation von Vizepremier Chen Yi empfangen, einem Vertrauten Maos und legendären kommunistischen Kommandeur im Chinesisch-Japanischen Krieg und Marschall der Volksbefreiungsarmee. Er meinte gegenüber Matern, dass Chinas Taiwan-Problem und Ulbrichts Problem mit Westberlin »viele Gemeinsamkeiten aufweisen«. Beides seien »von Imperialisten okkupierte Gebiete«, die integraler Bestandteil kommunistischer Länder seien.
    Um die Herausforderung Chruschtschows auf die Spitze zu treiben, vereinbarten Ostdeutsche und Chinesen, sich gegenseitig in ihren Bemühungen zur Wiedergewinnung dieser Territorien zu unterstützen. Nach chinesischer Ansicht hatte »das sozialistische Lager zwei Fronten«, 10 wobei Taiwan die Ostfront und Berlin die Westfront eines globalen ideologischen Kampfes war – und Chruschtschow an beiden Fronten als Führer des Weltkommunismus versagt hatte. Darüber hinaus versprach Chen, dass China helfen werde, die Amerikaner aus Berlin herauszubekommen, da die Situation dort alle anderen Fronten im weltweiten Kampf des Kommunismus beeinflusse.
    Chen erinnerte die Ostdeutschen daran, dass die Volksrepublik China im Jahr 1955 die Inseln Quemoy und Matsu mit schwerer Artillerie beschossen hatte. In der anschließenden Krise hätten Eisenhowers Stabschefs einen nuklearen Gegenschlag erwogen. In Wirklichkeit habe China dadurch nicht die internationalen Spannungen erhöhen wollen. Vielmehr musste Peking »den Vereinigten Staaten und der ganzen Welt zeigen, dass wir uns nicht mit dem gegenwärtigen [Taiwan-]Status abgefunden haben. Gleichzeitig mussten wir dem Eindruck entgegentreten, dass die USA so mächtig sind, dass niemand wagt, etwas gegen sie zu unternehmen, und man deswegen alle ihre Demütigungen schlucken muss.« Er deutete damit an, dass seiner Meinung nach gegenwärtig in Berlin eine ähnliche Entschlossenheit nötig wäre.
    Die Wärme dieses chinesisch-deutschen Austauschs stand in scharfem Gegensatz zur Eiseskälte, die inzwischen die sowjetisch-chinesischen Beziehungen prägte. Ulbricht wusste aus seinem Treffen mit Chruschtschow im vergangenen November, wie sehr sich der Sowjetführer von Mao herausgefordert fühlte. Er hatte dieses Wissen bereits erfolgreich dazu eingesetzt, Moskaus Wirtschaftshilfe für die DDR zu erhöhen. Chruschtschow hatte ihm damals vorgeschlagen, dass er Ostdeutschland auf eine Weise helfen würde, wie das China auf keinen Fall tun könne. Er war bereit, gemeinsame Unternehmen mit den Ostdeutschen auf sowjetischem Territorium zu gründen. So etwas hatten
die Sowjets noch mit keinem anderen Verbündeten vereinbart. »Wir sind nicht China«, erklärte er Ulbricht. »Wir fürchten uns nicht davor, den Deutschen eine Starthilfe zu gewähren. Die Bedürfnisse der DDR sind auch unsere Bedürfnisse. « 11
    Trotz des scheinbaren Waffenstillstands, den Chruschtschow auf der Novemberkonferenz der kommunistischen Parteien in Moskau mit Maos Abgesandten geschlossen hatte, wurden die Chinesen drei Monate später für den Sowjetführer sogar noch zu einem größeren Problem. Während die Ostdeutschen in Peking um Wirtschaftshilfe nachsuchten, ermutigte China den fremdenfeindlichen albanischen Staats- und Parteichef Enver Hodscha, mit der Sowjetunion zu brechen. Auf dem IV. Parteitag der KP Albaniens, der vom 13. bis 21. Februar 1961 in Tirana stattfand, rissen albanische Kommunisten die offiziellen Chruschtschow-Porträts herunter und ersetzten sie durch die Maos, Stalins und Hodschas. 12 Noch nie hatte ein sowjetischer Führer eine solche Demütigung in seinem eigenen Vorhof erlitten.
    Ulbrichts Kurs, diplomatischen Druck auf Chruschtschow auszuüben, hatte jedoch auch seine Risiken. Der weit mächtigere Chruschtschow könnte ja auf die Idee kommen, es sei endlich Zeit, Ulbricht durch einen fügsameren ostdeutschen Partei- und Staatschef zu ersetzen — seit dem Tod Wilhelm Piecks hatte er auch das Amt des Staatsratsvorsitzenden inne. Vielleicht kam der Sowjetführer zu dem Schluss, dass diese China-Mission die rote Linie überschritten habe. Trotzdem hatte Ulbricht gut geraten, dass Chruschtschow einfach die Alternativen

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