Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
Pro-Kopf-Investitionen in der Bundesrepublik doppelt so hoch gewesen wie in der DDR. »Das ist der Hauptgrund dafür, dass wir in der Arbeitsproduktivität und im Lebensstandard so weit hinter Westdeutschland zurückgeblieben sind«, schrieb er.
Was Ulbricht Chruschtschow eigentlich mitteilen wollte, ließe sich vielleicht so ausdrücken: Ihr habt uns diesen Schlamassel eingebrockt, und ihr habt am meisten zu verlieren, wenn wir untergehen, also helft uns da raus!
Ulbricht ging dann noch über die Forderungen nach Wirtschaftshilfe hinaus, die er im vergangenen November gestellt und die man ihm weitgehend bewilligt hatte. Die Gründe hierfür nannte er ebenfalls: »Der konjunkturelle Aufschwung in Westdeutschland, der für jeden Einwohner der DDR sichtbar war, ist der Hauptgrund dafür, dass im Verlauf von zehn Jahren rund zwei Millionen Menschen unsere Republik verlassen haben«, stellte er klar und fügte hinzu: »Dadurch konnte ein ständiger politischer Druck auf uns von Westdeutschland her ausgeübt werden.« 4
Ein ostdeutscher Arbeiter musste für ein Paar Schuhe dreimal so lange arbeiten wie ein westdeutscher, wenn er denn überhaupt welche finden konnte. 5 In Ostdeutschland kamen acht Autos auf tausend Einwohner, in Westdeutschland waren es siebenundsechzig. Die offizielle ostdeutsche Wachstumsrate von 8 Prozent gab die wirkliche Situation der meisten DDR-Bürger überhaupt nicht wieder, da die Zahlen durch die Schwerindustrieexporte in die Sowjetunion aufgebläht waren, während die Konsumgüterproduktion hinterherhinkte. Das westdeutsche Pro-Kopf-Einkommen war im Jahr 1960 doppelt so hoch wie das ostdeutsche. Nicht zuletzt deswegen stieg die Zahl der Flüchtlinge in diesem Jahr um 32 Prozent von 140 000 auf 185 000 an. Jeden Tag hatten also 500 Ostdeutsche ihr Land verlassen.
Aus all diesen Gründen 6 bat Ulbricht Chruschtschow um weitere Kredithilfen und eine Stundung der Rückzahlung: »Andernfalls müssten wir Importe von Stahl, Buntmetallen, Textilrohstoffen und Lebensmitteln senken und Waren, die für die Versorgung der Bevölkerung und für die Durchführung wichtiger Investitionen unbedingt benötigt werden, zusätzlich exportieren.« Er hatte
vorher Chruschtschow bereits gebeten, Gold zu verkaufen, um Ostdeutschland zu helfen. Dann sprach er eine ernste Warnung aus: »Wenn es nicht möglich ist, uns eine solche Kredithilfe zu geben, so würden wir das Lebensniveau der Bevölkerung des Jahres 1960 nicht halten können. Es würde in der Versorgung und in der Produktion eine so ernste Lage eintreten, dass wir vor ernsten Krisenerscheinungen stehen würden.«
Ulbrichts Botschaft an den sowjetischen Ministerpräsidenten war klar: Wenn Sie uns nicht jetzt sofort helfen, werden Sie sich auf einen neuen Aufstand gefasst machen müssen. Chruschtschow hatte den Putschversuch einiger Parteigenossen, der dem ungarischen Aufstand gefolgt war, nur knapp überstanden. Ulbricht wusste deshalb, dass er seine Warnungen nicht ignorieren konnte.
Ulbricht verband seine umfassenden Forderungen also mit der Androhung bitterer Konsequenzen, wenn Chruschtschow nicht darauf eingehen sollte. Sein Brief würde vielleicht den Sowjetführer kränken, aber das war Ulbrichts geringste Sorge. Sollte Chruschtschow tatsächlich nichts unternehmen, wäre dies das Ende der DDR — und Ulbrichts.
Am gleichen Tag schickte Ulbricht auch noch eine weitere unmissverständliche Botschaft an Chruschtschow, wobei er sich dessen Erzfeind bediente: Peking.
Ulbricht hatte bereits früher versucht, die chinesische Karte zu spielen. 7 Jetzt fragte er Chruschtschow nicht um Erlaubnis, ja, er gab ihm nicht einmal vorher Bescheid, als er eine hochrangige Delegation in Chinas Hauptstadt schickte, die vom Politbüromitglied und alten Parteikämpen Hermann Matern angeführt wurde. Da Ulbricht über Chruschtschows hässlichen Disput mit Mao genau informiert sein musste, war dies nach Zeitpunkt und Durchführung ein unfreundlicher Akt.
Die Zwänge der Flugroute führten jedoch dazu, dass die Gruppe in Moskau zwischenlanden musste. Erst jetzt wurde die Sowjetführung von dieser Mission alarmiert. Jurij Andropow, der als Politbüromitglied damals für die Beziehungen zu allen sozialistischen Parteien zuständig war, bat daraufhin den Leiter der Delegation, ihn während ihres Zwischenaufenthalts auf dem Flughafen Scheremetjewo über die Hintergründe dieser Reise aufzuklären. 8 Matern bestand darauf, dass die Mission einen rein wirtschaftlichen
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