Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Berlin blutrot

Berlin blutrot

Titel: Berlin blutrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: u.a. Sebastian Fitzek
Vom Netzwerk:
einen Tick. Er war Räusperer. In exakt gleichen, kurzen Abständen entfuhr seinem Kehlkopf ein heftiges, sich steigerndes Räuspern, als raspelte eine Raspel über seinen eisernen Kehlkopf. Das Räuspern drohte den Kehlkopf zu zerreißen, brach dann aber abrupt ab. Absturz in die Lautlosigkeit. Der Neurologe bekam für einen winzigen Augenblick einen starren, völlig leeren Blick. In seinem Gesicht lagerte für diesen kurzen Augenblick reinster Seelenfriede, ausdrucksvoll und unübersehbar. Als wäre das Räuspern ein Befreiungsschlag gewesen von unermesslichen Seelenqualen, die ihn aber, nach diesem kurzen Augenblick des Innehaltens, sofort wieder bedrängten. Ein Bruder im Schmerz, dachte ich. Ein Räusperer zerriss diese mitfühlende Anwandlung. Ich wusste auch nicht, ob der Neurologe, dessen Räusperei meinen Vortrag ständig unterbrach, überhaupt zuhörte. Ich brach meinen Vortrag ab. Nichts wie weg! Ich wusste, wie die Situation, am Marterpfahle dieser Krächzerei hängend, ausgehen würde! Ich erhob mich, um zu gehen. Es war zu spät.
    „Sie sind ein Hypertrophiker“, sagte der Neurologe, „Ihr Hirn verarbeitet nur eine gewisse Menge an Geräuschen. Werden diese überschritten, sagt das Hirn: Geräusch abschalten. Sofort. Mit allen Mitteln. Sie tun es. Hirn ist befreit. Sie haben ein echtes Problem bei der heutigen Dauerbeschallung.“
    „Was soll ich machen?“
    „Hm,hm“, sagte der Neurologe, „Am besten den Gehörgang veröden mit glühender Nadel.“
    „Das ist kein Trost“, sagte ich.
    „Ein Scherz, würde aber helfen“, sagte der Neurologe und legte die Spitzen seiner beiden Zeigefinger auf die Lippen und schob diese zusammen, so dass eine kleine, runde Öffnung entstand. Eine Zigarette hätte gerade hinein gepasst. Dann pfiff der Neurologe. So gedankenverloren. Wie einer, der pfiff, aber nicht wusste, dass er pfiff. Etwas Spucke kam aus der Öffnung. Sie waberte im Wind des Pfeifens. Dann flog sie in kleinen Fetzen davon. Das Pfeifen ähnelte dem Pfeifen eines kochenden Wasserkessels, nur war es viel leiser, dafür aber umso impertinenter. Im Kino fingerten, meist ältere Frauen, aus Zellophantüten Bonbons, ganz langsam, damit es niemand hörte. Es zog sich unendlich lang hin, dieses Geknistere. Zellophan knisterte besonders schlimm. Dieses langsame, möglichst geräuschlose Herausfingern des Bonbons aus der Zellophantüte war ja das unausgesprochene Eingeständnis, dass es ein Akt absichtlich herbei geführter Tortur war! Jetzt machen Sie mal einem Polizisten klar, dass Sie das Knistern zum Verstummen bringen wollten, nicht die Frau. Ich gehe nicht mehr ins Kino. Ganz schlimm auch das Geräusch, wenn jemand mit einer Blechschaufel von einem Pflaster Sand in eine Schubkarre schaufelte. Dieses Kratzen des Bleches auf den Steinen! Enervierend! „Töten!Töten!“ schrie das Hirn, „Nimm die Schaufel! Schlag zu!“ Das Gekrächze des Neurologen war dem Schaufeln mit einer Schippe sehr ähnlich! Er pfiff und räusperte sich in einem fort. Ich konnte nicht mehr an mich halten.
    Ich wurde von der Polizei in Handschellen abgeführt. Die Praxis des Neurologen, die Apparatur, einfach alles, war restlos zertrümmert. Tabula rasa. Er lag im Krankenhaus. Nasenbruch, Jochbeinbruch, diverse gebrochene Rippen, eine Nierenquetschung, Hämatome am ganzen Körper, eine schwere Gehirnerschütterung. Die ihm zu Hilfe eilenden Assistentinnen waren machtlos. Erst ein zufällig in der Praxis anwesender Ringer konnte mich überwältigen.
    Ich war ruiniert. Meine Firma hatte mir zu allem Überfluss auch noch gekündigt. „Sie flippen ja bei jedem harmlosen Geräusch aus“, sagte mein Chef, „Wie soll das denn im Außendienst funktionieren?“ Ich war Vertreter bei einer Versicherung. Durchaus erfolgreich. Da stand ich nun. Ohne Job, kein Geld, um die Praxis des Neurologen und seine Schmerzensgeldforderungen bezahlen zu können. Keine Bank gab mir einen Kredit. Ich wollte meinem Leben ein Ende setzen. Wer schon würde mich vermissen? Niemand. Es gab niemanden, der mich vermissen würde. Ich konnte mich ins Bett legen und einfach sterben. Wen sollte das schon scheren? Mein Dasein war sinnlos. Ich war ein Grenzgänger. Die Welt war voller Geräusche, die mich zum Ausflippen brachten. Dieser Welt konnte ich mich nicht entziehen. „Nur der Tod bringt dir Ruhe“, sagte ich mir. Diese Sehnsucht nach Ruhe überwältigte mich. Ich stand vor dem Hochhaus, in dem auch meine Versicherung untergebracht war. Ich

Weitere Kostenlose Bücher