Berlin blutrot
Herumscheuchen ließ sie sich, von Anwälten, Richtern, Therapeuten, verkroch sich, weinte nachts in die Kissen. Wann würde sie endlich anfangen sich zu wehren?!
1Sie stieg von ihrem Rad. Sie wollte zu dem Jungen stürzen, sich auf die Knie werfen, seine kleisternassen Hände küssen, um Verzeihung betteln … Da drehte er den Kopf, sah sie an, in seinen grauen Augen flackerte erst Überraschung, dann Spott und Hochmut. Natürlich, in ihrem schwarzen Leinenkleid, neben dem Hollandrad sah sie aus wie eine der Frauen aus der Boutique. Hatte sie die Verachtung des Jungen nicht vollkommen verdient? Musste sie all das, was er in ihr sah, nicht endlich zertrümmern?
„Die Lebensmitte ist nichts für Feiglinge. Wir dürfen uns nicht länger in den Schatten der Mauer kuscheln, zwischen uns und dem Glück. Die Lebensmitte verzeiht keine Schwäche, kein Zögern, keine Ausreden – vor allem verzeiht sie keine Angst!“
Abschied. Umarmung. Gelächter. Die schmuckbehängte Frau, der Heiner gerade einen Wangenkuss gab, musste schon ziemlich betrunken sein. Neben ihr, breit über das rosige Gesicht strahlend, stand die Made. Barbara lehnte auf der anderen Straßenseite, im Schatten zwischen zwei Laternen, an ihrem Hollandrad und beobachtete die Abschiedsszene. Jetzt stolperten die Gäste lachend durch den Garten, stießen das niedrige Tor auf, trennten sich, zwei Paare gingen nach links, eines nach rechts. Nachbarn also. Heiner und die Made hatten für ihre neuen Nachbarn eine Party gegeben. Um sich beliebt zu machen – wie obszön!
Barbara lehnte das Fahrrad an den Zaun, schloss aber nicht ab. Länger als zwei, drei Minuten würde sie sich nicht aufhalten. Bloß einen Blick aus der Nähe wollte sie auf Heiner werfen. Ob er gesund aussah, ob er sich an den Hüften schlank hielt. Die Made, selbst eher von der pummeligen Fraktion, erlaubte ihm wahrscheinlich jede Nascherei.
Sie stieg über den niedrigen Zaun. Sie verstieß gerade gegen ihre Unterlassungsverfügung nach § 238 StGB, das war ihr klar. Aber es sollte sie ja niemand sehen! Die Doppelgarage bot Sichtschutz, dann die Bambuspalisade. Sie hörte Heiners tiefe Stimme aus dem Garten, sie roch seine Pfeife, seinen Tabak, Black Cavendish … Dort saßen sie. Auf Gartenstühlen hinter einem Holztisch, zwischen leeren Wein- und Bierflaschen. Im Gras, auf den Fliesen, auf dem Sims des Außenkamins – überall lagen Teller, Servietten, Besteck. In einem Gartengrill glühte noch Holzkohle. Ein Windlicht auf dem Tisch warf flackerndes Licht auf die beiden nicht mehr jungen, von Liebe und Alkohol geröteten Gesichter. Heiner erzählte gerade eine Anekdote aus dem Ministerium, die Made wieherte vor Vergnügen und Stolz. Barbara trat aus
dem Gebüsch. Klopfte sich Dreck von den Knien, wischte ihr schweißnasses Haar aus der Stirn und sagte:
„Ich will die Harmonie nicht stören.“
Die Made schrie vor Schreck, Heiner griff sich an die Hemdtasche, wo sich das Handy beulte. Er flüsterte der Made etwas ins Ohr, sie wollte aufstehen, doch Barbara hob einen Stein vom
Rande des Zierteichs:
„Die Made bleibt hier!“
Und zu Heiner:
„Erkläre mir warum.“
„Du darfst nicht hier sein.“
„Erkläre mir einfach warum!“
„Wenn ich der Polizei melde –“
„Wir waren glücklich! Alles haben wir gehabt! Wir haben uns geliebt! Elf Jahre lang! Warum soll denn das vorbei sein?! Ich bin nicht perfekt! Aber du bist auch nicht perfekt! Wir haben uns geliebt!! Wir waren glücklich!!“
Die letzten Sätze hatte sie geschrien, hoch und gepresst, die Stimme erstickt in Tränen. Sie wollte zu Heiner stürzen, ihr Gesicht in seinen Schoß pressen, sie wollte über ihren gemeinsamen Neuanfang reden, ihr Manuskript für Psychologie heute …
„Elf Jahre!! Wir waren glücklich!!“
Die Made starrte sie an, Heiner starrte sie an. Er schob seinen Kiefer vor und zurück, ein schwacher Mann, Barbara sah es in dieser Sekunde klar. Was tat er denn, in seinem Ministerium? Er verfasste Vorlagen, über die an höherer Stelle entschieden wurde! Also war es ein Kampf zwischen ihr und der Made. Die Made sah ihr gerade in die Augen. Trank, ohne zu blinzeln, ihr Weinglas leer. Zog Heiner die Pfeife aus der Hand und hielt sie vor ihr Kuchengesicht. Umspielte mit fetter, spuckeglänzender Zunge das Mundstück. Fasste Heiners Hand, hob sie an ihr Gesicht und besudelte den Handrücken mit zwei schmatzenden Küssen. Barbara sah die Mauer, durch sie brechen musste. Sah die Waffen, sah die letzten
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