Berlin blutrot
der Geruch des Holzkohlegrills vom Rossia herein, der sie immer an Afrika erinnerte. Lag der Kontinent nicht direkt neben Charlottenburg?
Irgendwie schon.
Frühling des Herzens
Kai Hensel
Sie stand im Treppenhaus, vor dem offenen Briefkasten. Sie hielt den Brief in der zitternden Hand:
… haben mit großem Interesse Ihr Manuskript „Frühling des Herzens – wie uns eine Trennung stärker macht“ … bedauern jedoch, Ihnen mitteilen … aus Platzgründen nicht in der Lage …
Nicht in der Lage? Aus Platzgründen?! Sie hatten Platz, jeden Monat neu. Dazu die Themenhefte. Ihr Manuskript war nicht zu lang, sie hatte gekürzt, unerbittlich gekürzt. „Frühling des Herzens“ war am Ende sogar kürzer geworden als „Wann lohnt sich das Leben?“ aus der Februar-Ausgabe oder „Wie Sie die Signale der Seele entschlüsseln“ vom März.
Barbara ging die Treppe hoch, ihre Beine, ihre Finger, alles fühlte sich taub an. Sie drehte den Türschlüssel in die falsche Richtung, die Plastiktüte aus dem Biomarkt riss … Bedauern, Ihnen mitteilen … wünschen Ihnen weiterhin spannende und erkenntnisreiche Lesestunden … Unterschrift von Dr. Meyer- Tyssen, dem stellvertretenden Chefredakteur. Immerhin. Aber vielleicht hatte er die Absage gar nicht selbst verfasst? Vielleicht hatte ein junges Ding aus seinem Vorzimmer, eine Praktikantin Mitte zwanzig, der natürlich das Problemumfeld, Trennung in der Lebensmitte …
Die Abendsonne spiegelte sich im Kirschholzparkett des Wohnzimmers. Über dem Sandsteinkamin stand das Windspiel still. Auf dem Esstisch lag die Post von heute: Telefonrechnung, Kontoauszüge, ein paar Prospekte … Daneben die Juni-Ausgabe von Psychologie heute: „Gelassen älter werden – wie die Psyche Ihren Körper jung hält.“ Barbara fühlte ihre Augen feucht werden. Sie wollte sich auf dem Sofa verkrümmen, ihr Gesicht in den Kissen vergraben … Aber nein! Jetzt nicht schwach werden! Sich nicht fallen lassen! Hatte sie es in ihrem Manuskript nicht selbst beschrieben? Dieses Gefühl der Taubheit, der Lähmung? Den Abgrund, in den eine Krise uns stürzt?
„Wer entdecken unsere Kraft, sie hält uns, treibt uns voran. Nur wer weitergeht und nach vorn schaut, sieht Licht am Ende des Tunnels!“
„Drehung, seitwärts, Arme – links! Drehung, seitwärts, Arme – rechts!“
Step, Ausfallschritt, rückwärts über das Brett … Viele junge Mädchen kamen aus dem Takt, aber Barbara hielt mit.
„Und acht! Und sieben! Und sechs!“
Den Vormittag hatte sie Tische und Stühle geschleppt, in das neue Café einer Ex-Schulkameradin. Nachmittags hatte sie ihre Ex-Schwiegermutter besucht, im Altenheim in Köpenick. Und jetzt war sie, die Ex-Ehefrau, immer noch fit genug, um es mit den Zwanzigjährigen aufzunehmen.
„Hepp! Hepp! Hepp!“
Nach der Trennung hatte sie abgenommen, elf Kilo in acht Monaten; das war zuviel gewesen, natürlich; wie ein Gespenst hatte sie ausgesehen. Also hatte sie sich zusammengerissen, sich im Sportstudio angemeldet, angefangen, ihr Gewebe zu straffen, Carbo-Riegel und Eiweißdrinks herunterzuwürgen …
„Wir strecken die Arme … Wir atmen tief und lassen uns fallen …“
Vielleicht war sie in ihrem Manuskript über die Disziplin ein wenig hinweggehuscht? Hätte sie die zwei Absätze über den Rhythmus des Lebens, den eine Frau nach der Trennung erst wieder finden muss, doch besser behalten? Stattdessen zwei, drei Striche in der Einleitung, die vielleicht etwas schwerfällig, zu erklärend …
„Danke! Ihr wart super!“
Seit ihrer Trennung duschte Barbara nur noch kalt. Fast verachtete sie die Frauen, die ihre Zeit tratschend unter der Heißdusche vertrödelten; als ob heißes Wasser nicht die Haut austrocknete. Sie suchte nach Ludger, in der Trocken-, in der Dampfsauna, unter den Solarien. Mit Ludger war sie letzten Montag auf dem Stairstepper ins Gespräch gekommen. Sofort hatte sie gespürt, da war ein Mann, der sie versteht. Er hatte gespürt, da war eine Frau, die sie versteht. Fast auf die Sekunde gleichzeitig hatten ihre Trainingsprogramme geendet, in der Dampfsauna hatten sie sehr tief über alles geredet. Er hatte ihr seine HIV-Infektion gestanden, sein Freund hatte ihn zwei Nächte zuvor wegen eines Negativen verlassen. Ludger hatte seinen Kopf gegen die Kacheln geschlagen und furchtbar geweint.
„War Ludger heute schon im Studio?“ fragte Barbara an der Rezeption.
„Wer?“
„Ludger! Der Dünne mit dem Ring in der Lippe!“
Der leere Blick der
Weitere Kostenlose Bücher