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Berlin blutrot

Berlin blutrot

Titel: Berlin blutrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: u.a. Sebastian Fitzek
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Verkäufers! Barbara flüchtete aus dem Presse-Shop … Niemand hatte das Recht, sie von der Kasse zu drängen, niemand hatte das Recht, sie anzufassen! Sie hörte Rufe, fand Schutz hinter den Schließfächern, lehnte sich, heftig atmend, gegen die Kachelwand. Fühlte sie sich erleichtert? Kein bisschen. Sie hätte nicht fliehen dürfen. Sie hätte sich stellen müssen, ihren Standpunkt verteidigen, sie hätte … Der Absatz über die Schuld - sie würde ihn wieder einfügen. Den Kampf würde sie führen, gleich morgen früh, mit Dr. Meyer-Tyssen, dem jungen Ding aus dem Sekretariat … Es war ihr Manuskript! Sie hatten kein Recht, es nach Belieben zu verstümmeln! Barbara schaute, aus der Deckung der Schließfächer, hinüber zum Presse-Shop. Der Verkäufer stand hinter seiner Kasse, schrieb eine Quittung, als wäre nie etwas gewesen. „Frühling des Lebens“, der Absatz über die Schuld, eine halbe Seite extra. Hatte Dr. Meyer-Tyssen diese halbe Seite vielleicht beim Lesen gefehlt? Die Ermutigung, Stärkung des Willens, die Aufforderung zum Kampf?
    „Wir könnten von dieser Welt verschwinden, wir wären einfach nicht mehr da. Aber wir wollen nicht verschwinden! Wir wollen da sein! Und dieses Dasein, dieses Ich bin ich, und das ist mein Leben ist nicht das, was wir sind – es ist das, was wir tun!“
    „Wenn Sie das Gefühl haben, Sie verlieren die Kontrolle …“
    Gleich morgen früh, nach dem Telefonat mit Dr. Meyer-Tyssen, würde sie dieses penetrant klappernde Schutzblech reparieren. War sie nicht frei? Konnte sie nicht jederzeit nach Süden abbiegen, Richtung Steglitz? Nach Norden ins Wedding? Sie durfte in die verbotene Richtung fahren, niemand hatte das Recht, ihr in dieser Sache Vorschriften zu machen. Sie durfte sich bloß dem Bungalow nicht nähern. Unterlassungsverfügung nach § 238 StGB, der Anwalt hatte die Liste heruntergebetet: Keine Anrufe. Keine Mails. Keine Faxe. Kein Klemmen von Briefen unter Scheibenwischer. Kein Auflauern in Restaurants, auf öffentlichen Plätzen. Schließlich die Selbstverpflichtung zur Therapie. Um privatrechtliche Schritte der Gegenseite, infolge des Zwischenfalls auf dem Parkplatz des Bundesministeriums für Bildung und Forschung …
    Sie stand wieder an einer roten Ampel. Das war ja alles Schwachsinn. Sie hatte Heiner auf dem Parkplatz nicht bedroht. Sie hatte um ein Gespräch gebeten, vernünftig, unter erwachsenen Menschen. Sie gab Heiner an der Trennung ja nicht einmal Schuld! Die andere hatte sich in sein Leben gebohrt wie eine Made in einen Apfel. Hatte ihn weichgefressen und verdaut, allerdings noch nicht vollständig. Noch steckte Heiner in ihrem Magen- Darm-Trakt, zappelte in der Säure. Wenn Barbara ihn nicht herauszog, bevor es zu spät war …
    Die Ampel sprang auf grün, ihre Finger krampften sich um das Lenkrad. Würde Psychologie heute eine zweite, dritte Fassung ihres Manuskriptes sorgfältiger prüfen? Würde sie sie überhaupt prüfen? Fast ein halbes Jahr hatte sie an „Frühling des Herzens“ gearbeitet; Dr. Meyer-Tyssen hatte kein Recht, ein halbes Jahr ihres Lebens einfach in den Müll zu werfen! Ein magerer Bursche fiel ihr auf, mit roten Haaren, er klebte Plakate an die Schaufenster einer Boutique. Barbara stieg vom Rad, schob es auf den Bordstein. Der junge Mann tauchte den Wischer in den Kleistereimer, nässte die Fensterscheiben …
    „Dürfen Sie das? Einfach so Plakate an die Scheibe kleben?“
    Er hörte sie nicht; aus seinem bulligen Kopfhörer hämmerte Schlagzeug und Geschrei. Karamellfarbene Kostüme im Schaufenster, halb geschlossene Schuhe, Handtaschen mit Goldapplikationen … Klassische Mode für die Lebensmitte. Wie entmutigt musste eine Frau sein, um so etwas zu kaufen?! Vier bleiche junge Männer mit Stachelhaaren starrten Barbara von den Plakaten an: „Point of no Return“, eine Punkband, Auftritt nächsten Freitag, in einem Club in Neukölln. Eines der Gesichter kam ihr bekannt vor – natürlich, der Junge mit dem Kopfhörer! Er klebte die Plakate seiner eigenen Band! Bestimmt war er völlig erfolglos. Er war arm und wütend. Alle Plattenfirmen schickten seine Aufnahmen zurück. Er war einsam, die Mädchen wandten sich ab. Vielleicht war er schon vorbestraft? Wegen Drogen, krimineller Plakate? Aber er kämpfte! Er kämpfte für seine Musik, seine Würde, er schreckte vor Polizei und Gericht nicht zurück! Barbara stiegen Tränen in die Augen. Wofür kämpfte sie denn? Für ihre Ehe? Ihr Manuskript? Ihr Glück?

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