Berlin blutrot
Anlageformabhängig zu machen. Und dann darf ich wohl doch darauf hinweisen, dass die Neudeckers ein recht risikoreiches Produkt gewählt hatten, und zwar aus freien Stücken, weil sie sich davon eine überdurchschnittliche Rendite versprachen.“
Während Wartensteiner sich die Sahne vom Mund wischte, verzogen sich seine Lippen hinter der Serviette zu einem Lächeln. Nein, so, wie es ihm gerade durch den Kopf geschossen war, dürfte er keinesfalls antworten.
„Es war nicht meine Überweisung“, sagte er schließlich. „Glauben Sie denn wirklich, dass ich mir anvertrautes Geld einem insolventen Unternehmen hinterherschicke? Die Bank brauchte einen Sündenbock, natürlich aus dem Vorstand, deshalb hat man mich entlassen.“
„Das Schicksal der Neudeckers berührt Sie demnach nicht?“, fragte der Redakteur.
Wartensteiner wandte sich Frau Neudecker zu, die ihre Arme vor sich verschränkt hatte. „Auch wenn mich an den, sagen wir, erschwerten Startbedingungen Ihrer Tochter keine Schuld trifft, möchte ich dennoch zum Ausdruck bringen …“
„Ach halten Sie doch die Klappe“, fuhr Herr Neudecker ihm überraschend ins Wort.
Der Journalist horchte auf und vergewisserte sich, dass das Tonband lief.
„Diese ganze Veranstaltung hier macht einfach keinen Sinn. Das Blaue vom Himmel hat die Bank uns versprochen, und hinterher reden sie sich raus.“
„Günther“, versuchte Frau Neudecker ihren Mann zu beruhigen.
„Ist doch wahr, Helga, ich habe keine Lust mehr, mich hier für dumm verkaufen zu lassen.“
Der Journalist versuchte, die Situation zu retten, doch Herr Neudecker war bereits aufgestanden und hielt seiner Frau den Mantel hin. Wartensteiner erhob sich nun ebenfalls und streckte ihm seine Hand entgegen. Nach kurzem Zögern, doch mit schwachem Druck, erwiderte dieser den Gruß. Auf dem Weg zum Ausgang nickte Frau Neudecker Wartensteiner unsicher zu. Als die beiden verschwunden waren, setzte er sich wieder und griff nach dem kleinen Wasserglas, das mit dem Kaffee gebracht worden war.
„Herr Wartensteiner, wir danken Ihnen für Ihre Bereitschaft zu diesem ungewöhnlichen Interview“, sagte der Journalist und stellte demonstrativ das Tonband ab. „Haben Sie noch einen Moment für ein informelles Hintergrundgespräch?“
„Sekunde“, antwortete Wartensteiner. Sein Mobiltelefon signalisierte den Eingang einer Textnachricht. Er las, sah besorgt auf, versuchte dann jedoch geistesgegenwärtig, sich seine Überraschung nicht weiter anmerken zu lassen.
„Kron hat sich auf die Charlottenstraße geworfen. Später mehr. Schröder“, lautete die Nachricht.
Kron, dieser Korinthenkacker. Zu ängstlich für das Bankgeschäft, dachte Wartensteiner. Von Anfang an war ihm dieser Mann unsympathisch gewesen. Das dünne, fettige Resthaar zu einem Bedenkenträgerscheitel gekämmt, hatte er vor zwei Jahren Wartensteiners Büro betreten und sich vorgestellt. Risikomanagement. Das Wort klang viel zu modern für jemanden, der von der besonderen Verantwortung einer Bank schwafelte und so tat, als lebten wir noch in den Fünfziger Jahren. Und jetzt wirft sich dieser Idiot wegen ein paar hundert Millionen aus dem Fenster.
„Herr Wartensteiner?“
„Ja, Entschuldigung, was möchten Sie denn wissen?“
„Wir würden gerne den genauen Ablauf der Ereignisse im September rekonstruieren.“
„Hat Ihnen Dr. Weyergraf den entsprechenden Schriftsatz denn nicht zukommen lassen?“
„Wir sind Ihrem Anwalt für seine Aufgeschlossenheit natürlich sehr dankbar, aber gerade aufgrund dieser Darstellung haben sich ein paar Fragen ergeben.“
„Was ich Ihnen sagen kann, muss im Rahmen dessen bleiben, was Dr. Weyergraf Ihnen mitteilen ließ. Sie wissen ja, dass wir gegen meinen ehemaligen Arbeitgeber wegen der Entlassung Klage eingereicht haben.“
Wartensteiner hatte Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Seine Gedanken schweiften ab, er stellte sich vor, wie Kron regungslos auf dem nassen Pflaster lag und sein Blut in einen Gullydeckel rann.
„Betrachten Sie es als eine Gelegenheit, die Dinge aus Ihrer Sicht zurechtzurücken. Wir beschränken uns bei unseren Recherchen naturgemäß nicht auf das, was die Kanzlei Weyergraf zur Verfügung stellt.“
Kron musste vor seinem Tod geredet haben. Jetzt traut er sich, dachte Wartensteiner, hinterlässt seinen Scheiß und macht sich dann für immer aus dem Staub. Und wenn schon. Kron konnte viel behaupten. Die E-Mail auf dem Bürorechner, um die sich alles drehte, hatte er,
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