Berlin blutrot
Sätze, die ihrem Manuskript noch fehlten:
„Die Frau in der Lebensmitte ist nicht länger Zuschauerin des Lebens. Sie stürmt auf die Bühne, ab jetzt zählt ihr Text, ihre Stimme, ihr Leben – denn sie weiß, es ist ihre letzte Chance! Bevor der Vorhang sich für immer schließt!“
Ein dünner Strahl aus der Spiritusflasche – schon schoss eine Flamme aus der Pfeife, in das Gesicht der Made. Sie kreischte, ihr Halstuch, ihre Haare standen in Flammen. Barbara spritzte mehr Spiritus, schon brannte auch Heiners Hemd. Er sprang auf, Barbara warf die Spiritusflasche gegen seine Brust, schmetterte Whisky- und Wodkaflaschen gegen die beiden Köpfe, es tat ihr gut, wichtig war, dass sie den Kontrollverlust bewusst zuließ. Barbara warf Anzündwürfel auf die brennenden Körper, die Plastikstühle fingen Feuer, verschmolzen mit Kleidung, Haaren, Haut … Kreischen und Brüllen, Heiners lodernder Körper rappelte sich hoch, Barbara trieb ihn mit dem Schürhaken in den Winkel zwischen Kamin und Bambuspalisade. Er brach zusammen, in der Hemdtasche klingelte sein Handy, einen Sack Holzkohle kippte sie auf seine lodernde Brust … Barbara durfte jetzt nicht schwach werden, mit dem Schürhaken schlug sie auf die brennenden Körper ein, in die Gesichter … Jetzt brannte auch die Balustrade, Nachbarn riefen von der anderen Seite der Hecke:
„Heiner? Alles klar bei euch?“
Barbara rief zurück:
„Der Heiner ist für kleine Jungs!“
Sie drehte den Gartenschlauch auf, löschte die Flammen der Balustrade, ließ aber die Anzündwürfel in den verkohlten und verschmorten Körpern glühen. Sie ließ sich ins kühle Gras fallen. Dort stand noch ein Glas mit einem Rest Weißwein, ein Teller mit Weißbrot und Rettichsauce; die paar Kalorien extra durfte sie sich jetzt gönnen. Gleich Morgen früh würde sie Dr. Meyer- Tyssen anrufen, ihm die frohe Botschaft übermitteln. Eine Serie, ein Themenheft, so vieles schien plötzlich möglich, sie stand ganz am Anfang, weit breitete sich der Horizont eines neuen Lebens …
Sie hörte Sirenen, die näher kamen, in Bäumen und Büschen sah sie den Widerschein von Blaulicht. Frau in der Lebensmitte, fast musste sie lachen. Es genügte eben nicht, die Fesseln abzuwerfen! Weil die Fesseln immer nachwuchsen, in unserem Innern! Freiheit war kein Zustand, sondern ein Prozess, warum hatte sie das früher nie begriffen? Und wer den Kampf nicht wagte, jeden Tag neu … Sie hörte Klingeln an der Haustür, Rufe. Jetzt traten Männer auf die Terrasse, junge Männer in Uniform, die hatten das alles noch vor sich. Barbara atmete tief den Geruch von verbranntem Fleisch. Sie stand auf und sagte:
„Wie oft denken wir, wir kommen zu spät? Eben noch Flammen, jetzt nur noch Rauch. Eben noch Glut, jetzt nur noch Asche. Aber für die Suche ist es nie zu spät! Wir beginnen neu, wir knien uns in verkohlte Knochen, verbranntes Fleisch. Solange wir weiterwühlen, solange wir auf den letzten Funken hoffen – solange tragen wir Frühling im Herzen.“
Wartensteiners letzte Überweisung
Viktor Iro
„Wissen Sie“, sagte Wartensteiner und durchbohrte die Sahneschicht seines Einspänners mit einem langstieligen Löffel, „wenn es jemanden gibt, der Ihre Lage versteht, dann bin ich es. Sie haben Ihr Geld verloren, ich meinen Job. Wir sind beide Opfer derselben, unerfreulichen Situation.“
Das Ehepaar, das ihm gegenübersaß, fühlte sich nicht wohl. Dicht aneinandergerückt hockten die Neudeckers auf dem straff
gespannten, grünen Lederpolster des Kaffeehauses und wichen Wartensteiners Blick aus. Draußen regnete es, hinter den Holzjalousetten sammelten sich die Tropfen auf der Scheibe.
„Das ist eben eine typische Vereinfachung bestimmter Medien“, fuhr Wartensteiner fort, „hier der Täter, da die Opfer. In Wahrheit ist es doch …“ Der Journalist, der das Gespräch moderierte, unterbrach ihn. Ob nicht das Geld, fragte er, mit dem die Neudeckers ihrer Tochter das Studium hatten finanzieren wollen, ein Teil jener Summe gewesen sei, die Wartensteiner an die seinerzeit längst insolvente Partnerbank in den Vereinigten Staaten überwiesen habe. Und ob er sich daher nicht verantwortlich fühle für ein Leben, dem nun eine große Chance genommen sei. Wartensteiner setzte das Glas an seine Lippen und schlürfte Kaffee durch den Sahnekanal, den er mit dem Löffel gebohrt hatte. „Zunächst einmal“, hörte er sich innerlich sagen, „empfehle ich, sich bei Investments niemals von einer einzigen
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