Berlin blutrot
vermissen,
Muttchen!“ Eine Welle der Zuneigung durchflutete Agnes, und als er sich am Fuß der Hafentreppe noch einmal herumdrehte, winkte sie ihm zu. Max erwiderte den Gruß mit einem sparsamen Kopfnicken, das nur sie sah.
Donnerstag. Perfektes Timing. Perle war eiskalt und von größtmöglicher Präzision. Auf den Punkt genau in die Sparkasse, links zum Treppenniedergang, den toten Winkel hinter der Säule genutzt.
Der Angestellte mit zwei Koffern. Elektroschocker. Die große Blume als Sichtschutz, nur einen der beiden Koffer genommen und in das mitgebrachte Case gepackt. Jetzt hat er 240 Sekunden, bis an der Kasse die Meldung aus dem Keller fehlt. Kopf gesenkt halten, raus. Rüber zu C & A, nach rechts zwischen die Kleiderständer. Kein Mensch weit und breit. Runter mit der Perücke, dem falschen Bart, der Fensterglasbrille und alles zu dem Geldkoffer gepackt. Das Wendejackett umgedreht. Noch 150 Sekunden. Sie werden erst einmal prüfen, was los ist. Raus aus C & A, nach rechts Richtung „SNÄXTRA“ und links in Richtung Rolltreppe, Ausgang Ullsteinstraße. Ein gewisser Triumph steigt auf. Fünfundachtzig Schritte. Nichts zu hören. Noch etwa 60 Sekunden.
Perle erstarrt. Die Rolltreppe ist gesperrt. Oben sind ein Notarzt und die Feuerwehr zu sehen. Irgendein Unfall. Der Ausgang ist dicht. Plan zwei, drei und vier können erst oben auf der Straße greifen. Was jetzt? Perles Blick zuckt über den Hafen. Das Muttchen. Der Kutter!
Donnerstag, 10 Uhr. Er kommt nicht. Hat sie sich so geirrt?
Agnes gießt gedankenverloren die Pflanze, die ihr Max geschenkt hat. 10.30 Uhr, sein Platz auf Deck ist leer. Agnes bereitet die Fischbrötchen für den Tag vor. Bei diesem Wetter bevorzugen die meisten Kunden den erfrischenden Geschmack von Hering. 11.19 Uhr. Agnes stellt das Wasser für Max wieder in den Kühlschrank, als ihr Blick auf den Steg fällt und sie ihn in ungewohnter Eile auf den Kutter zukommen sieht. Er trägt einen mittelgroßen Koffer. Sie lächelt glücklich und gießt Pfefferminztee ein.
Agnes rührte mit gleichmäßigen Bewegungen die dunkle Brühe im Soljankatopf um. Mit einem Stöhnen sah sie hinüber zum Häcksler, den sie wohl diesmal selbst sauber machen musste.
Schade.
Wie oft hatte man ihr schon geraten, die alten Stücke weg zu schmeißen. Aber es hingen so viele Erinnerungen daran. 2004 in Schönebeck war es gewesen, als der Mann von der Gebühreneinzugszentrale ihr den kleinen Fernseher wegnehmen wollte. Das wäre fast schiefgegangen, weil er beinahe wieder zur Besinnung gekommen war. Oder der Tätowierte 1990, der ihr das Boot und den Liegeplatz in Dömnitz abpressen wollte. Da hatte sie die Dosis überschätzt. An den erinnerte sich Agnes noch genau, weil der einen riesigen Schwanz gehabt hatte, als sie ihn auszog.
Schade darum.
Mit den Fingern prüfte Agnes das Fleisch. Noch ein bisschen, dann löste es sich leichter von den Knochen.
Die Angestellte, die sie 1981 beim Diebstahl entdeckte, hatte sie nicht kochen können, weil ihr Liegeplatz direkt neben der Hafenmeisterei gewesen war – und das wäre im Hafen von Wismar aufgefallen. Zwei Tage brauchte sie, um mit dem Messer die Knochen blank zu schälen.
1973 in Tangermünde musste sie ihre Abtreibung gemeinsam mit dem Arzt aus dem Verkehr ziehen, als der anfing, sie zu erpressen. Um den Hafenmeister aus Eisenhüttenstadt 1966 war es eigentlich schade. Er hatte ihr nicht nur körperliche Wonnen bereitet, sondern auch den Kutter zum kanaltauglichen Imbissboot umgebaut, wurde aber leider zu aufdringlich und glaubte über sie bestimmen zu können. Tja, Wilhelm ging in Wolgast 1959 flüssig über Bord, zusammen mit Trude, mit der sie ihn erwischt hatte.
Wieder fasste Agnes in die warme Sud. Ja, jetzt war es gut. Mit den bloßen Fingern ließ sich das Fleisch vom Knochen lösen. Das war wichtig, denn Wilhelm hatte ihr beigebracht. „Kein Fleisch in den Häcksler, das setzt die Schnecke und die Mechanik zu.“ Den Kopf abzutrennen war eine Heidenarbeit gewesen. Agnes war froh, dass es heutzutage diese elektrischen Messer gab. Fast zärtlich begann Agnes das Fleisch von den Knochen zu pulen.
„Schade, Max, es war nett mit dir. Aber du warst zu dumm, hast zu viele Fehler gemacht, und die Versuchung war für mich zu groß.“
Behutsam strich Agnes über den Schädel, der ein wenig dampfte und sie aus leeren Höhlen ansah, als sie ihn aus dem Wasser zog. „Du hättest daran denken sollen, dass man einen Fotoapparat und ein Stativ
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