Berlin blutrot
Französischen stammt?“
Kohlhaase starrte sie verständnislos an. „Nee“, antwortete er.
Auch gegen das Wort „Nein“ war nach Nikes Ansicht nicht ernsthaft etwas einzuwenden.
„Angeblich fußt der Begriff auf dem französischen à l´eau“, fuhr sie fort. „Als sich die mittelalterlichen Stadtbewohner ihrer Fäkalien noch mittels Ausleeren der Nachtgeschirre durch ein Fenster entledigten, wurden die Passanten unten auf der Gasse höflicherweise mit dem Ausruf À l‘eau! gewarnt. Frei übersetzt: Vorsicht, jetzt kommt ein Wasserschwall! Ein Euphemismus, ohne Frage, aber aus diesem À l‘eau ist dann – angeblich – das Wörtchen Hallo entstanden.“
„Wow“, sagte Kohlhaase, „is ja schrill.“
Nike wandte sich ab und erteilte Kohlhaase innerlich ein Fleißkärtchen, da er ausnahmsweise auf das Allerweltsattribut cool verzichtet hatte. Nicht dass schrill viel besser war – Dr. Feilke
hätte ihr seinerzeit aufgrund dieser sachlich wie inhaltlich unangebrachten Bezeichnung die Ohren lang gezogen –, aber wenigstens handelte es sich bei schrill nicht um eine unspezifische, zudem fremdsprachliche Vokabel.
„Ey, Leute, Frau von Redlitz hat mir grad ne echt coole Story erzählt“, wandte Kohlhaase sich an die Umstehenden.
Nike nahm das Fleißkärtchen zurück, stieg in den Bus, wählte den Einzelplatz gleich links neben dem Vordereingang und vertiefte sich in ihren Fontane:
„An dem Schnittpunkte von Kurfürstendamm und Kurfürstenstraße, schräg gegenüber dem “Zoologischen“, befand sich in der Mitte der siebziger Jahre noch eine große, feldeinwärts sich erstreckende Gärtnerei, deren kleines, dreifenstriges, in einem Vorgärtchen um etwa hundert Schritte zurückgelegenes Wohnhaus, trotz aller Kleinheit und Zurückgezogenheit, von der vorübergehenden Straße her sehr wohl erkannt werden konnte …“
Der Schnittpunkt der beiden Straßen existierte schon lange nicht mehr. Nike vermutete, dass Fontanes idyllische Gärtnerei – sofern es sie denn tatsächlich gegeben hatte – irgendwo zwischen Beate Uhses Erotik-Museum und dem Zoo-Palast gelegen haben musste, aber als sie am Nachmittag im ehemaligen Zentrum West-Berlins ankamen, hatte sie ihr Vorhaben, die Schüler auf literarische oder in sonst irgendeiner Weise interessante Schauplätze aufmerksam zu machen, bereits weitgehend aufgegeben: Sie hatten ihr schon beim Kaiser-Wilhelm-Denkmal in Porta Westfalica nicht mehr zugehört.
Nikes Vorschlag, gleich nach der Ankunft in Berlin das Pergamon- Museum zu besuchen und den Tag mit einer Spree-Rundfahrt durch’s Regierungsviertel ausklingen zu lassen, war einstimmig abgelehnt worden. Stattdessen hatte sich die Mehrheit für das Berliner Gruselkabinett entschieden, mit anschließendem Abendessen in einer Kreuzberger Gastwirtschaft namens Würgeengel. Und dann blieb gerade noch Zeit genug, um sich für die nächtliche Party im Tresor umzuziehen.
Die Mehrheit! Unbewusst stieß Nike ein abschätziges „Tz!“ hervor. Wozu bin ich überhaupt mitgefahren? Und das auch noch freiwillig?
„Was nicht okay?“, fragte Kohlhaase. Offenbar war ihm ihr „Tz!“ nicht entgangen.
„Doch, doch, alles in Ordnung“, beteuerte Nike. „Ich habe lediglich erwogen, mich für heute zurück zu ziehen, weil …“
„Aber auf gar keinen Fall!“, fiel Sven-Christoph Fleischhauer ihr ins Wort.
„Genau! Kneifen gildet nicht!“, quietschte seine Freundin, undschließlich erhob die ganze Klasse Einspruch gegen Nikes Fernbleiben. Einstimmig.
„Es ist doch Ihre letzte Abi-Reise vor der Pensionierung. Und wir sind Ihre allerletzte Klasse …“
Eigenartig, dachte Nike. Eigenartig, dass sie mich unbedingt dabei haben wollen. Gegen ihren Willen war sie gerührt.
Allerdings hielt das nicht lange vor, denn als der Bus vor dem Hostel in der Köpenicker Straße hielt und Nike anhob, zumindest ein, zwei Sätze über die Anno 1905 just ein Haus weiter ansässigen Nachbarn Max und Käthe Kruse zu verlieren, hatte die Klasse bereits unter Hinterlassung großflächig verteilter Abfälle den Bus verlassen.
„Dreckelige Firkelsköpp“, nuschelte der Fahrer. Wortlos machte Nike sich daran, ihm beim Einsammeln der Chipstüten, Plastikbecher, leeren Flaschen und gebrauchten Tempotaschentücher behilflich zu sein, und obwohl sie keine Freundin neuer Wortschöpfungen war, gestand sie dem unlängst im Mode gekommenen Begriff Fremdschämen eine gewisse Berechtigung zu. Jedenfalls widerfuhr ihr das
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