Berlin blutrot
mitbringt, wenn man einen Fotoband machen will. Du hättest dich zumindest mit der Historie des Tempelhofer Hafens auseinandersetzen sollen. Der Bildschirm auf deinem Notebook zeigte permanent immer dieselbe Einstellung, das Fenster zur Sparkasse. Du hast den Unterarm beim Essen um deinen Teller gelegt, wie alle ehemaligen Heim- und Gefängnisinsassen. Glaubst du, ich habe nicht jeden Tag deinen Blick gesehen, mit dem du misstrauisch alles abgesucht hast, ob du nichts liegengelassen hast, wenn du gehen wolltest?
Aus meiner Kombüse habe ich beobachtet, wie du die Fenster der Sparkasse taxiert hast. Da begann ich es zu ahnen. Hast du geglaubt, es waren unsere Gespräche, die mich an deinen Tisch fesselten? Oder deine dunklen Augen!“
Agnes kicherte und wischte sich den Schweiß aus ihrem faltigen Gesicht.
„Du hast dir nicht die Mühe gemacht, deinen Notizblock zuzuklappen, wenn ich mich gesetzt habe. Zahlen, Schritte, Abstände, Zeiten und am Montag dann das große D fett eingekreist. Ganz klar – DONNERSTAG – also heute.
Ich dachte schon, du kommst nicht. Nur zehn Minuten später, und ich hätte den Tee mit dem Gift weggeschüttet. Aber dann bist du wohl weich geworden. Wolltest du dich von Muttchen
verabschieden? Dummer Junge.
Wenn du mir nicht die letzte Woche ständig erzählt hättest, dass ich zu alt für die harte Arbeit auf dem Kutter bin, wäre ich nicht drauf gekommen! Aber so!
Du hattest ja Recht, es wird von Jahr zu Jahr mühseliger. Mit den Fünfundsiebzigtausend aus deinem Koffer kann ich irgendwo an der Ostsee die paar Jahre noch genießen. Ich brauch ja nicht viel.“
Agnes fischte die letzen Knochen aus der Brühe, ein paar Zehenknochen, ein Wadenbein und das Becken. Sie warf alles auf die große Tischplatte. Viel war nicht mehr dran und als sie sauber waren, steckte sie die Skelettteile in das überdimensionale Sieb neben dem Häcksler. Das Tropfwasser würde sie später über die Lenzpumpe gemeinsam mit dem Bilgenwasser absetzen. Der Knochenhäcksler schaffte seine Arbeit innerhalb 15 Minuten und das Zerkleinerte käme zusammen mit dem Fischmüll, einem Teil der Fleischreste und den Innereien in die Entsorgung. Jeden Freitag wurden die blauen Tonnen abgeholt. Den anderen Teil würde sie portioniert einfrieren und demnächst bei einer Kanalfahrt hier und da auswerfen.
Agnes wandte sich dem Soljanka-Kübel zu, der inzwischen ausgelaufen war. Mit der Hand wischte sie hier und da etwas von der Innenseite und griff in das Sieb über dem Abfluss, wo sich ein kleiner Gegenstand verfangen hatte. Sie klaubte ihn heraus und hob ihn in das Licht. Es war eine rosafarbene Perle. Agnes schnippte sie hinüber in das Sieb mit den Knochenresten, wo auch schon die kleine Topfpflanze lag.
Nikes letzter Sieg
Ulrike Bliefert
Nike öffnete ihren Füllfederhalter und setzte in gleichmäßigen, gestochen scharfen Druckbuchstaben ihren Namen auf das kleine Pappschildchen: Nike von Redlitz.
Als ihr Vater den Vornamen ausgesucht hatte, dachte dabei noch kein Mensch an Turnschuhe. Vielmehr war es die griechische Siegesgöttin, Tochter der Styx und des Pallas, nach der Generalmajor Eberhard von Redlitz seine einzige Tochter benannt sehen wollte: Nike sei die weitaus apartere Version der römischen Victoria, hatte er in seinem letzten Feldpostbrief erklärt. Man schrieb den 13. April 1945, und der töchterliche Vorname war Programm. Als Nike getauft wurde, war ihr Vater bereits gefallen. Ostfront.
Er hinterließ seiner Witwe drei auf wundersame Weise dem Bombenkrieg entkommene Mietshäuser in Köln-Sülz und ein wohlgefülltes Konto in der Schweiz.
„Wichterichstr. 34 a“, setzte Nike sorgfältig in die nächste Zeile und in die folgende „50937 Köln“.
Während die Tinte trocknete, nahm sie noch einmal den Werbeprospekt zur Hand, den Sven-Christoph Fleischhauer ihr vor ein paar Wochen in die Hand gedrückt hatte. „Hier, Frau von Redlitz“, hatte er gesagt, „dahin wollen wir die Abifahrt machen. Ist einstimmig beschlossen.“
Nike war nur unmerklich zusammengezuckt: „Tropical Paradise“, das größte künstliche Party- und Bade-Resort der Republik. Vor den Toren Berlins. Gruppenreise. All inclusive.
Ihre eigene Abiturreise hatte sie nach Rom geführt. Sie hatte gemeinsam mit den anderen Mädchen im Kloster Suore di Santa Elisabetta gewohnt und in Begleitung von Fräulein Rudelius und Herrn Dr. Feilke die ewige Stadt durchwandert; voll inbrünstigen Staunens und mit acht Mark Taschengeld pro
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