Berlin - ein Heimatbuch
anpflanzen oder eine neue Bücherei bauen und was weiß ich noch alles. Am coolsten fand ich persönlich die Idee, hier einen mehrere Hundert Meter hohen Berg hinzusetzen. Ich mein, stell dir vor, du fährst mit der U-Bahn in die Berliner Alpen, mitten in der Stadt gehst du im Sommer Bergsteigen und im Winter Skifahren.«
Karl sieht mich an, als wüsste er nicht, ob ich ihn verscheißern will oder komplett durchgeknallt bin.
»Kannst du mal bitte die Lenker halten?«
»Wie meinen?«
»Na, die Griffe vom Drachen da.«
»Ach so. Wie ist der Plan?«
Ich atme tief durch. »Pass auf: Ich halte das Teil hoch und gehe da lang, bis die Schnüre Spannung haben; und wenn ich ›Los!‹ brülle, dann rennst du los und ich schicke das Ding in den Himmel. Alles klar?«
»Theoretisch schon.«
»Na dann.« Ich gehe auf Abstand und brülle martialisch: »Los!« Karl beginnt im Tempo eines gehbehinderten Tausendfüßlers über die Wiese zu humpeln, während der Drachen in quälender Zeitlupe versucht, den Tempelhofer Luftraum zu erobern. Kaum hat er ein paar Meter an Höhe gewonnen, bleibt mein wahnsinniger Helfer plötzlich stehen, schaut dem trägen Steigflieger nach, verrödelt sich dabei mit den Leinen, rammt im Wanken eine junge Mutter mit Kinderwagen, überschlägt sich und plumpst der Länge nach auf seinen dicklichen Bauch, wobei er bei seinem täppischen Versuch, sich im letzten Moment irgendwo abzustützen, mich zu allem Überfluss ebenfalls umreißt. Na danke schön!
Wie eine überfütterte polnische Mastgans fällt unser stolzer Drachen vom Himmel und rammt sich vor mir in die Wiese.
Zwei Rotznasen, die ihre tischtennisplattengroßen Fluggeräte mühelos im Wind halten, machen sich vor Lachen über unsere Tölpelhaftigkeit fast in die Hose. Neben den beiden posiert ein Rainer-Langhans-Verschnitt mit Zopf und Batikhemd; er mustert uns interessiert, ohne dabei seinen eigenen Flieger aus den Augen zu lassen.
»Lenkdrachen kann man übrigens auch alleine starten. Einfach in den Wind legen und an einer der Leinen ziehen.«
O Mann, jetzt muss man sich schon sich von Alt-68ern seine eigenen Trendsportarten erklären lassen, das ist echt die Höchststrafe.
»Danke für den Tipp«, murmele ich trotzdem. Was macht der Sponti überhaupt hier, gibt es heute nix zu demonstrieren?
»Hast du gehört, Karl?«, rufe ich. »Karl?« Wo ist der jetzt hin?
Egal, es geht ja angeblich auch ohne den Tollpatsch. Ich stehe auf, platziere den Drachen behutsam neben einem Maulwurfshügel und gehe so lange rückwärts, bis sich die Leinen spannen. Tatsächlich: Der Drachen hebt ab! Erst die eine Seite, dann die andere, steigt er leicht torkelnd in den Himmel.
»Yeah!«, schreie ich euphorisch. »Jetzt gibt’s Loopings! Im Dutzend billiger!«
Langsam erforsche ich die Schnüre, zupfe, ziehe, gebe Leine. Der Drachen tanzt mal dahin, mal dorthin, stürzt fast zur Erde, fängt sich wieder, dreht sich und steht knatternd im Wind.
Voller Glück tänzele ich hin und her und ramme dabei meinen Ellbogen mit voller Wucht einem alten Bekannten in den Schmerbauch: meinem Nachbarn Pasulke. Verdammt, der ist auch immer da, wo man ihn nicht braucht! Hat der kein Zuhause? Vor lauter Überraschung flutscht mir eine der Schnüre aus der Hand und der gerade noch so majestätisch wirkende Drachen taumelt und stürzt erneut kläglich ab. Ich könnte heulen.
» Tja, Topal «, streut Pasulke erbarmungslos Chilipfeffer in meine frische Wunde, » ick hab ja nüscht jejen euch Osmanen, aber dit Drachenbauen habt ihr nich erfunden, wa. Kiek ma um dich. Bevor ihr Brot sacht, ham deutsche Jungs schon drei Mal abjebissen, wa. Bleiben Se lieber ma im Witzejewerbe, Herr Nachba, dit passt bessa zu Ihnen. «
Und marschiert fröhlich »In Rixdorf is Musike« pfeifend ab.
Zu allem Überfluss taucht jetzt stattdessen Karl wieder hinter mir auf, im Schlepptau die rothaarige Skater-Königin, diesmal barfuß. Beide nippen Rotwein aus einem Pappbecher und kichern. »Ach so, Britta, das ist übrigens Murat.«
»Hey, Murat.«
»Hi, äh, Britta. Ich teste nur grade mal den Drachen hier ... für meinen Sohn ...«
Sie mustert mich skeptisch.
»Ja, schon klar. Schicke Brille übrigens. Tragen so was nicht immer die Cops in diesen 80er-Jahre-B-Movies, wenn sie besonders cool wirken wollen?«
Zu ihrem großen Glück sieht sie meinen tödlichen Blick nicht. Spiegel-Sonnenbrillen haben halt viele Vorteile.
Die Schwangere Auster
Die im Tiergarten stehende ehemalige
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