Berlin - ein Heimatbuch
Dozentenpositur zu werfen. »Das Berliner Gruselkabinett ist in dem bundesweit einzigen permanent geöffneten Bunker des Zweiten Weltkrieges untergebracht. 1943 als Luftschutzbunker für die am Anhalter Bahnhof ankommenden oder abfahrenden Reisenden erbaut.«
»Aha.« Missmutig versuche ich, mir einen Kaffee zu brühen. Ich habe extrem schlecht geschlafen. Ständig suchte mich das Bild heim, wie ich zur Premiere meines neuen Programms auf die Bühne steige und dem erwartungsfrohen Publikum stotternd erkläre, dass ich leider monatelang anstrengenden Besuch hatte und wegen meiner Gastgeberpflichten keine neuen Nummern schreiben konnte. Seltsamerweise reagierten die Besucher in meinen Wachträumen wenig kooperativ und verlangten unter drastischen Beschimpfungen lautstark ihr Geld zurück. In der Realität wären meine Fans mit Sicherheit verständnisvoller. So zumindest das Mantra, mit dem ich mich in der Nacht zu beruhigen mühte. Was könnte sich besser anbieten, endlich mit der Kreativarbeit zu beginnen, als ein verregneter Montag? Dies probiere ich meinem Quälgeist in sehr langsamen und halbwegs deutlichen Worten klarzumachen.
Der Erfolg: gleich null.
»Papperlapapp, Murat. Jetzt hast du schon so viel Zeit verplempert. Da kommt es auf einen weiteren Tag nicht an. Alleine schaffst du das Programm in den paar Wochen bis zur Premiere eh nicht mehr. Also habe ich mir überlegt, ab morgen stelle ich dir einen kompetenten Co-Autor zur Seite.«
»Interessant. Wen denn?«
»Mich.«
»Dich?«
Ich bin wirklich nicht leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen, aber bei diesem aberwitzigen Vorschlag fällt mir vor lauter Schreck die gerade angebissene Schrippenhälfte in den Milchkaffee. Schlimm, was das Lehramtsstudium mit ursprünglich gesunden menschlichen Hirnen anstellt. Kurz überlege ich, ob ich mit Mister Größenwahn nicht einen kleinen Ausflug in die Dietrich-Bonhoeffer-Klinik mache, im Volksmund kurz und knackig Bonnies Ranch genannt. Dann könnte ich ihn dort auch gleich in Obhut geben. Doch mein gutes Herz siegt mal wieder über die Vernunft.
»Karl, hör mal. Ich weiß, du bist extrem belesen. Du bist womöglich sogar ein guter Autor, keine Ahnung. Aber ein Comedyprogramm zu schreiben, das ist schon was Spezielles. Dafür gibt es hoch bezahlte Spezialisten.«
»Murat ...« Karl schaut mich an, als wollte er seinerseits liebend gerne mich in Bonnies Ranch verfrachten. »Sprich nicht mit mir, als hätte ich den IQ einer unterbelichteten Amöbe. Ist mir schon klar, dass man dafür ein besonderes Know-how braucht. Nachdem du mir bei unserem Telefonat von deiner Schreibblockade erzählt hast, habe ich mir gleich ein Buch zu dem Thema gekauft. Und kann nun mit Fug und Recht sagen: Ich bin ein akribisch ausgebildeter Comedywriter.«
Comedywriter! Den Anglo-Slang aller Pseudokreativen hat er immerhin schon perfekt drauf. Warum eigentlich werden zu jedem noch so abseitigen Thema Ist-alles-keine-Hexerei-bring-es-dir-doch-einfach-selber-bei-Bücher veröffentlicht? Ich glaube, weil unsere Gesellschaft keinen Respekt mehr vor dem Handwerk hat. Stattdessen huldigt man dem Glauben, jeder sei in der Lage, alles zu können. Ein tragischer Irrtum, weswegen in der Menschheitsgeschichte mit Sicherheit noch nie so viele sich Superstar schimpfende Dilettanten herumhüpften wie heutzutage. Aber Karl-Holger ist eh ein hoffnungsloser Fall. Manche Menschen kommen wahrscheinlich einfach mit einem Größenwahn-Gen auf die Welt.
»Aber wenn du dir wirklich Sorgen machst, Murat, verzichte ich von mir aus heute auf das Gruselkabinett, und wir fangen sofort mit dem Schreiben an.«
»Neeeee!« Ich kann nicht verhindern, dass mein Schreckensruf ein paar Dezibel zu laut ausfällt. Schnell drossle ich meine Lautstärke wieder. »Gruselkabinett ist bei dem Wetter vielleicht echt keine schlechte Idee.« Zeitgewinn ist für den Anfang die einzig mögliche Strategie. Schließlich stecke ich in einer bösen Zwickmühle: Stoße ich unseren Besuch zu heftig vor den Kopf, bringe ich zwangsläufig auch die mitfühlendste Ehefrau von allen gegen mich auf. Hier sind also soziale Kompetenz und Fingerspitzengefühl gefragt. Nichts, woran es mir normalerweise mangeln würde. Es gibt aber Menschen, an denen selbst die einfühlsamste Sozialkoryphäe scheitern würde. Je näher ich Karl kennenlerne, desto mehr sehe ich mein persönliches Sozialkompetenz-Waterloo unausweichlich näher rücken.
Zwei anstrengende Stunden später, in denen der angehende
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