Berlin - ein Heimatbuch
Swing-Jazz definierte. Also, ich sag mal: Punks mit Manieren, gepflegtem Äußeren und gutem Musikgeschmack.«
»Genau, Karl. Du bist der Waldmeister des treffenden Vergleiches. Sag doch gleich: Gesunde sind Kranke ohne Krankheiten.«
»Bring mich doch nicht dauernd aus dem Konzept, Murat. Willst du nun etwas über Berlin lernen oder nicht?« Resigniert lehne ich mich in meinen Gartenstuhl zurück und lasse den Dingen ihren unvermeidlichen Lauf. Gute Gastgeber sind schlechte Gastgeber mit Verständnis für die Macken ihrer Gäste.
»Genau wie die vorwiegend im Kölner Raum aktiven Edelweißpiraten waren die Swing-Kids ursprünglich zwar unangepasst, aber völlig unpolitisch. Erst während der Naziherrschaft politisierte sich die Bewegung zunehmend, vor allem als die Swinger ab 1940 von der Gestapo so gezielt wie gewalttätig verfolgt wurden.«
»Swinger ist in diesem Kontext ebenfalls ein höchst unpassender Ausdruck. Falls du in der Hinsicht deinen Horizont erweitern willst, können wir ja zur Abwechslung heute Abend einen entsprechenden Club besuchen.«
»Von mir aus. Aber dann würden unsere Tickets für den Quasimodo-Club verfallen.«
»Tickets für das Quasimodo? Vergiss es. Heute Abend spielt hier Helge Schneider mit seinem Original Holzkopp Orgel Trio. Das ist garantiert seit Wochen ausverkauft.«
»In der Tat, ist es. Unter anderem deswegen, weil ich vor meiner Abreise nach Berlin per Internet Karten dafür geordert habe.«
Potzblitz! Eins kann man dem Mann wirklich nicht unterstellen: Berechenbarkeit.
»Ann-Marie hat mir erzählt, dass du ein großer Helge-Schneider-Fan bist. Also dachte ich, ich könnte dir eine kleine Freude machen und dich mit den Tickets überraschen.«
Junge, jetzt muss ich doch tatsächlich kurz einmal schlucken, damit mir nicht womöglich ein paar Rührungstränchen aus dem Auge kullern. Wer hätte geahnt, dass dieser pummelige Zehnmalkluge ein fühlendes Herz für seine Mitmenschen hat. Stünde nicht immer noch das Problem seines anmaßenden Co-Autoren-Angebotes zwischen uns, würde ich ihn in diesem Moment, wenn auch nur kurz, dankbar drücken. So aber belasse ich es bei einem verlegenen Dankesgrummeln, von dem ich mir nicht sicher bin, ob es akustisch überhaupt ankommt. Denn seine Aufmerksamkeit hat sich schon wieder ganz anderen Dingen zugewandt.
»Was sind das eigentlich für Bäume in diesem Garten?«
»Linden und Platanen«, trumpfe ich auf. Als typische Citypflanze habe ich zwar weniger als null Ahnung von Fauna und Flora, aber diese beiden Laubbäume sind in Berlin derart häufig vertreten, dass sogar ein Naturbanause wie ich sie inzwischen identifizieren kann.
»Sieh an, du weißt es sogar. Ich hätte gewettet, dass du als Stadtindianer keine Ahnung von Bäumen hast.« Was für ein arroganter Fatzke. Der klitzekleine Kieselstein, den er bei mir kurz im Brett hatte, fällt auf den Boden und kullert auf Nimmerwiedersehen in ein Erdloch. Jedenfalls habe ich von Karls Protzgerede für heute die Nase gestrichen voll. Mit dem Hintergedanken, dass die laute Musik im Kellerclub jedes weitere Gespräch konsequent unterbinden wird, schlage ich ihm einen Ortswechsel vor. »Wird sonst schwer werden, einen guten Platz zu finden. Das Quasimodo ist total verwinkelt und ich würde Helge schon gerne auch sehen und nicht nur hören können«, verstecke ich meine eigentliche Absicht hinter einer plausibel klingenden Begründung. Mein Vorschlag beeindruckt ihn nicht im Geringsten.
»Vergiss es. Der Einlass beginnt im Quasimodo frühestens um neun.«
Was soll ich sagen? Er hat ja leider recht. Dieses verfluchte Internet ermöglicht heutzutage ja selbst dem letzten Provinzschwaben intimen Zugriff auf ursprünglich gut gehütete Stadtgeheimnisse. Wegen der direkt an den Musikclub angrenzenden Vaganten Bühne muss aus akustischen Gründen immer erst das Ende der dortigen Theatervorstellung abgewartet werden. Mit der Folge, dass im Quasimodo traditionsgemäß kein Konzert vor 22 Uhr beginnt. Und mir hier mindestens noch eine Stunde die Wort-Diarrhö meines Gegenübers entgegen schwappt.
Vaganten Bühne
Das älteste Privattheater Berlins wurde 1949 mit dem Ziel gegründet, durch einen religiös orientierten Spielplan auf unkonventionelle Weise die christliche Botschaft zu vermitteln.
Schon bald erweiterte sich das Repertoire auf Stücke anderer zeitgenössischer Couleur. Seit 1956 bespielen die Vaganten die Kelleräume des Delphihauses in der Kantstraße,
Nach dem Tod des
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